Süddeutsche Zeitung

Deutsche Eishockey Liga:Das Berlin der Zwanziger

Nach acht Jahren sind die Eisbären erstmals wieder Eishockey-Meister - und mit acht Titeln alleiniger Rekordhalter. Bricht nun eine neue Berliner Ära an? Beziehungsweise: Lassen Mannheim und München sich das gefallen?

Von Johannes Schnitzler

Am Ende also wieder einmal Tränen. Der Schwede Max Görtz, 1,90 Meter groß, kniete auf dem Eis und schluchzte hemmungslos wie ein Vierjähriger, dem gerade die Kugel Schokoeis von der Waffel auf den Boden geplatscht ist. Janik Möser, zu Saisonbeginn mit einer Herzmuskelentzündung nach einer Corona-Infektion ernstlich erkrankt, starrte mit roten Augen in die Leere, die ihn in diesem Moment umgab. Jeff Likens, 35, der gerne einmal den Basketball-Star Michael Jordan treffen und ihn fragen würde, "wie ich jeden Tag das Beste aus mir und aus meinen Teamkollegen herausholen kann", suchte mit tränenverschleiertem Blick nach Trost. Dieser kam in der massiven Gestalt von Trainer Pat Cortina, der Likens, für den es das letzte Spiel seiner Profikarriere war, zärtlich wie ein Vater seinen Sohn den Nacken tätschelte: Kopf hoch, Junge, das wird schon wieder.

Auf der Bank hingegen kauerten die Spieler der Grizzlys Wolfsburg wie erschöpfte Zecher nach einer komatösen Nacht: Zum vierten Mal nach 2011, 2016 und 2017 waren sie im Finale, zum vierten Mal hatten sie verloren. Das entscheidende dritte Spiel um die deutsche Eishockey-Meisterschaft am Freitag ging an die Eisbären Berlin, 2:1, genau wie die Best-of-three-Serie. Die Grizzlys hatten alles aus sich herausgeholt, mehr war nicht drin. Dann gingen sie rüber zu den Berlinern und gratulierten. Max Görtz heulte.

Mit einer neuen Kugel Eis wird der Wolfsburger Schmerz nicht zu lindern sein. Auf der anderen Seite, bei den Siegern, mischten sich die Freudentränen mit Champagner. "Fantastisch" fühle sich der Moment an, sagte Frank Hördler. Mit acht Meistertiteln sind die Eisbären vor Mannheim (mit sieben Titeln) wieder alleiniger Rekordmeister der Deutschen Eishockey Liga (DEL). Hördler, 36, stand bei allen acht Meisterschaften auf dem Eis. Seit der siebten sind immerhin acht Jahre vergangen.

"Offense wins games but defense wins championships", schon klar: Mit Toren allein gewinnt man vielleicht einen Blumentopf, aber keinen Silberpokal. Doch so deutlich wie in dieser Finalserie war selten zu sehen, wie wichtig eine stabile Abwehr ist - vor allem dann, wenn die Abwehrspieler sich auch noch erfolgreich in die Offensive einschalten. Hördler hatte in Spiel zwei das 1:0 für die Berliner erzielt und damit den Weg zum Ausgleich in der Playoff-Serie geebnet. In allen Serien lagen die Berliner zurück, "das war fast schon unser Motto", sagte Hördler, Zigarre schmauchend, am Mikro von Magentasport. Aber jedes Mal besannen sie sich auf ihr Credo, dass sie nur als Team gewinnen könnten. "Keiner hat den Kopf hängen lassen", sagte Hördler. Am Freitag war es Verteidiger Kai Wissmann - einer, der sonst eher selten auffällt - der erst mit vollem Einsatz eine Wolfsburger Großchance vereitelte und dann das die Meisterschaft entscheidende 2:1 von Nationalstürmer Leo Pföderl auflegte. Jenem Pföderl, den die Eisbären nach einer Innenbandverletzung Mitte April für die Playoffs schon abgeschrieben hatten. Nun materialisierte er sich dort, wo es sich für einen Stürmer gehört, und erzielte seinen 23. Saisontreffer.

Was entscheidend war? "Scheißegal. Hauptsache, es wird gefeiert."

Pföderl ist der erfolgreichste deutsche Torschütze der DEL. Sein Sturmpartner Marcel Noebels wurde zum zweiten Mal nacheinander zum Spieler der Saison gewählt, nach dem Finale bekam Ryan McKiernan die Auszeichnung als wertvollster Spieler dieser Playoffs überreicht: McKiernan, ein Verteidiger, hatte in neun Spielen zehn Scorerpunkte gesammelt, genauso viele wie die Stürmer Noebels und Matt White. Für sie alle ist es der erste DEL-Titel.

Galten die Eisbären während der Hauptrunde phasenweise als zu abhängig von ihrer Top-Reihe mit Noebels, Pföderl und Ausnahmetalent Lukas Reichel, 18, zeigten sie in den Playoffs über alle vier Reihen eine ausgeglichene Leistung. War das der Schlüssel zur Meisterschaft, Leo Pföderl? "Scheißegal", antwortete der 27-Jährige. "Hauptsache, es wird gefeiert." Pföderl zitierte damit wortgleich einen Spruch von Sven Felski, der zwischen 1992 und 2012 in mehr als 1000 Spielen für die Eisbären den Weg des Klubs vom schräg angeschauten Ex-Stasiverein Dynamo und Prügelknaben der DEL zum Rekordmeister mitgemacht hat - vom "Scheißhaus ins Penthouse", wie es der ehemalige Eisbären-Manager Lenz Funk, ein Tölzer wie Pföderl, einmal deftig formuliert hat.

Ob nun eine neue Berliner Ära anbricht, die goldenen Zwanziger? "Ich hoffe es", sagt Marcel Noebels, zwei Tage nach dem Triumph und wieder ausgeschlafen. Auch im vergangenen Jahr, als die Saison vor den Playoffs abgebrochen werde musste, seien sie gut gewesen. "Aber jetzt haben wir noch ein paar Puzzleteile dazu bekommen." Eines der wichtigsten Teile ist Serge Aubin, 46, Frankokanadier, im zweiten Jahr in Berlin tätig. "Er hat ein Gespür für den Spieler und den Menschen", sagt Nationalspieler Noebels. "Ich habe ihm viel zu verdanken." Hördler sagte, Aubin erinnere ihn an Don Jackson, unter dem die Eisbären zwischen 2008 und 2013 fünfmal die Meisterschaft gewannen. "Oh", sagte Aubin, als er von dem Vergleich hörte: "Da habe ich es noch weit hin." Er habe seinen Spielern nur gesagt, sie sollten Spaß haben und "ohne Angst" spielen. Manchmal reicht das, wenn man seine Spieler kennt und ernst nimmt.

Alle Klubs bauen um. Die einen aus Ehrgeiz, die anderen aus purer Not heraus

Berlin sei ein würdiger 100. deutscher Eishockey-Meister, da waren sich alle einig. Auch die Unterlegenen. Pat Cortina umarmte Aubin lange, "er ist ein superfeiner Kerl und Sportsmann", sagt Noebels, der Cortina noch als Bundestrainer erlebt hat. Nach dieser Saison, die erst im Dezember und nur dank staatlicher Hilfen starten konnte, gibt es dennoch viele Fragezeichen. Den Verzicht auf mehr als die Hälfte ihres Gehalts wollen und können sich viele Profis nicht mehr leisten. Und Rallyes wie sie die Eisbären zuletzt hatten, mit 23 Spielen in 47 Tagen, sind dauerhaft nicht zu verantworten. "Is'n straffes Programm jewesen zum Schluss", sagte Hördler.

Die Zuschauerzahlen hätten sich verdoppelt, jubelte Magentasport zwar, fast jeden Abend seit Mitte Dezember war Eishockey live zu sehen. Aber noch eine Saison ohne Zuschauer in den Stadien dürften die Klubs und ihre Sponsoren kaum mehr stemmen können. Pavel Gross, Trainer des entthronten Meisters Adler Mannheim, nannte den Playoff-Modus ein "Foul am Eishockey" und die DEL eine "Lachnummer in ganz Europa", DEL-Geschäftsführer Gernot Tripcke wiederum hakte Gross' Forderung nach einem Alternativplan als "Stimmen aus einem Paralleluniversum" ab. Teams wie Düsseldorf und Köln fahren gezwungenermaßen ihre Budgets und ihre Ansprüche herunter, Branchenriesen wie Mannheim und der EHC Red Bull München investieren dagegen großzügig in ihre Kader. Mannheim meldete bereits die Verpflichtung des NHL- und KHL-erfahrenen Nationalspielers Korbinian Holzer, München holt Frederik Tiffels (Köln) und Austin Ortega (ehemals Berlin), die Bestätigung, dass Adler-Kapitän Ben Smith nach München wechselt, gilt als Formsache. Wer München abschreibe, mache einen großen Fehler, ließ Manager Christian Winkler wissen.

In Berlin werden ihnen die Drohungen aus dem Süden erstmal egal sein. "Wir waren nach der Hauptrunde Erster, wir sind jetzt am Ende Erster", sagt Marcel Noebels. Wer Meister werden will, muss erst einmal an den Eisbären vorbei. Vierter deutscher Klub in der Champions League neben Berlin, Mannheim und München ist durch die Niederlage der Wolfsburger übrigens Bremerhaven - eine Premiere nach dieser Pandemie-Saison voller Überraschungen. Vielleicht schaffen es ja auch die Grizzlys wieder bis ins Endspiel. Als am Freitag in Berlin der Pokal überreicht wurde, schniefte Max Görtz aber immer noch.

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