Eishockey:Einstürzende Wände

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Jetzt reicht's: Im letzten Drittel entlud sich der Ingolstädter Frust. (Foto: Heike Feiner/Eibner/Imago)

"Die Dinge sind dann einfach passiert": In einem denkwürdigen DEL-Spiel verliert der ERC Ingolstadt beim EHC München mit 1:9 Toren.

Von Christian Bernhard

Der erste Blick ging nach oben unters Hallendach, hin zum Videowürfel. Als ob er sich vergewissern wollte, dass das, was da gerade passierte, auch wirklich passierte. Dann sah Doug Shedden kurz auf seinen Zettel mit Notizen, verstaute ihn aber zügig wieder in der Brusttasche seines Sakkos. Jetzt war nicht die Zeit für Taktik-Analysen. Denn dort oben, auf dem Videowürfel, hatte ihm in jenem Moment wirklich eine große 8 entgegen geleuchtet - und zwar nicht unter dem Logo seines Klubs.

Shedden, weitgereister Eishockeytrainer des ERC Ingolstadt, hat einen Sonntag hinter sich, auf den er liebend gerne verzichtet hätte. Er musste ja nicht nur die bitteren Zahlen auf dem Videowürfel verkraften, sondern auch noch mitanhören, wie in der Nordkurve der Münchner Olympia-Eishalle "Nur noch zwei, nur noch zwei"-Rufe angestimmt wurden. "Bitte tun Sie mir einen Gefallen", sagte er wenig später, zu Beginn der Pressekonferenz, "lassen Sie uns das schnell hinter uns bringen." Der Kanadier war verständlicherweise bedient nach der 1:9-Klatsche, die seine Mannschaft beim EHC Red Bull München kassiert hatte. Auch sein Kapitän Fabio Wagner tat sich schwer, das Debakel verbal einzuordnen. "Es gibt nicht viel zu sagen", sagte der Nationalspieler bei Magentasport, "das war absolut peinlich von uns."

Die Überraschung über das denkwürdige Ergebnis war auf beiden Seiten zu spüren. Solch ein Spiel habe er sich nicht erwartet, sagte Münchens Trainer Don Jackson, nachdem Shedden von einer "großen Überraschung" gesprochen hatte. Diese Einschätzungen hatten viel damit zu tun, dass ein solches Szenario bis kurz vor der Hälfte des Spiels noch nicht vorstellbar gewesen war. 1:1 stand es im temporeichen und intensiven Derby, in dem beide Mannschaften Akzente setzten und nicht nur ERC-Torhüter Kevin Reich, sondern auch Danny aus den Birken im Münchner Kasten gefordert war.

Für Ingolstadts Angreifer Frederik Storm ist die Saison nach einem Handbruch beendet

Nach dem 2:1 von Austin Ortega in Minute 26 änderte sich aber alles. "Die Dinge sind dann einfach passiert", sagte Jackson über das Mitteldrittel, das die Ingolstädter nicht so schnell vergessen werden. Patrick Hager (32.), Trevor Parkes (35.), Ben Smith (36.), Julian Lutz (39.) und erneut Smith (40.): Beinahe im Minutentakt landete die Scheibe im ERC-Kasten. Auch der Torhüterwechsel von Kevin Reich zu Danny Taylor nach dem 1:5 konnte die Münchner Lawine nicht bremsen. "Dann kommt das nächste, das nächste, das nächste, irgendwann musst du einfach Stopp machen", sagte Wagner. Doch die Ingolstädter fanden an diesem denkwürdigen DEL-Sonntag den Stopp-Knopf nicht. Oder waren zu geschockt, um ihn zu betätigen. Der ERC brach völlig auseinander, obwohl er seine zwei vorherigen Spiele der Woche gewonnen hatte, das erste davon auswärts beim Tabellenführer, den Eisbären Berlin. Das Bild, das Shedden am Sonntag verbal zeichnete, brachte es auf den Punkt: "Die Wände sind eingestürzt." Als die Drittelsirene zum zweiten Mal erklang, führten die Münchner mit 7:1. Dass es zu Beginn des Drittels noch 1:1 gestanden hatte, schien eine Geschichte aus einer anderen Eishockeyzeit zu sein.

Die Münchner kamen aus dem Jubeln gar nicht mehr heraus. Allen voran der 18-jährige Julian Lutz, der seinen ersten DEL-Treffer erzielte und diesen derart euphorisch bejubelte, wie es wohl nur ein Teenager tun kann. Oder das 7:1, das Smith in Unterzahl gelang, weil Yasin Ehliz bei einem Konter die Scheibe durch seine Beine hindurch nach hinten legte und Smith dadurch leichtes Spiel hatte. "München hat uns hergespielt", musste Wagner nicht nur deshalb konstatieren. Nach dem 8:1 von Philip Gogulla, das Sheddens Blick auf den Videowürfel zur Folge hatte, war die wohl einzige positive Nachricht des ERC-Tages, dass die Hoffnungen der Münchner Anhänger auf einen zweistelligen Sieg nicht mehr erfüllt wurden. Ben Streets 9:1 in der 52. Minute bedeutete das Ende des Torreigens.

Trotzdem: Je näher sich das Spiel dem Ende zuneigte, desto größer wurde die Zahl an Ingolstädter Spielern, die nach dem Ende ihres Wechsels beim Hinhocken auf der Spielerbank mit ihren Schlägern wahlweise die Bande oder die direkt vor ihnen in einer Öffnung positionierten gelben Trinkflaschen malträtierten. Als ob die herbe Pleite nicht genug gewesen wäre, verlor der ERC verletzungsbedingt auch noch einen seiner komplettesten Angreifer. Frederik Storm bekam schon im ersten Drittel die Scheibe derart unglücklich ab, dass er sich dabei einen Handbruch zuzog. Der Däne muss operiert werden, für ihn ist die Saison beendet. Für die restlichen ERC-Spieler stand am Montag ein leichtes, halbstündiges Eistraining auf dem Programm, das diese Woche auch noch ihre abschließenden vier Hauptrundenspiele beinhaltet. Dann hieß es: Raus aus der Halle, um den Kopf frei zu bekommen und zu vergessen, was am Tag zuvor passiert war.

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