Süddeutsche Zeitung

DFB-Team in der Einzelkritik:Da ändert sogar Havertz seinen Gesichtsausdruck

Der Mittelstürmer trifft und lächelt, David Raum versucht sich als Geheimagent und Marc-André ter Stegen spielt schon wieder nicht zu Null. Die Flick-Elf in der Einzelkritik.

Von Philipp Selldorf

Marc-André ter Stegen

Nach 26 Minuten und ein paar Sekunden schoss dem Torwart des FC Barcelona möglicherweise ein Gedanke durch den Kopf: "Nicht schon wieder..." dürfte dieser Gedanke gelautet haben, denn die alte Geschichte von der unglücklichen Liaison zwischen dem Spitzentorwart ter Stegen und der deutschen Nationalelf näherte sich gerade einem neuen Kapitel. Üblicherweise darf der bekennend ehrgeizige ter Stegen immer nur in solchen Spielen den ewigen Manuel Neuer vertreten, wenn der Gegner nur ein oder zwei Mal aufs Tor schießt und der Ball prompt im Ziel landet. Auch diesmal war ter Stegen nicht mehr Action vergönnt, als unbeschäftigt in der kalten Gegend herumzustehen, aber als sich Armenien das erste Mal ernsthaft in seinem Strafraum bemerkbar machte, kam wieder so ein Schuss, den er nicht halten konnte. Doch Eduard Spertsyan verfehlte die Ecke um ein paar Zentimeter, ter Stegen konnte sich wieder auf den Beobachterposten zurückziehen. In der 52. Minute durfte er dann tatsächlich einen Ball fangen, allerdings einen Ball mit dem Schwierigkeitsgrad 1 bis 2 (auf einer Skala bis 10). Doch in der 59. Minute war es dann soweit: Der Ball lag im Tor - Elfmeter Mkhytarian - und ter Stegen hatte wieder nicht zu Null gespielt.

David Raum

In seinem dritten Länderspiel empfahl er sich zunächst für eine zweite Karriere nach der Fußballer-Karriere: Er war zwar stets anwesend, aber meistens unsichtbar wie ein Geheimagent. Die linke Seite, auf der er zugange war, blieb unberührt wie eine Tabuzone. In der zweiten Halbzeit kam Raum aber öfter aus der Deckung und gab sich als aktiver Mitspieler zu erkennen. Noch ist er kein Mann mit besonderen Eigenschaften, aber schon ein Linienspieler mit rundum passablen Talenten.

Jonathan Tah

Als Nachzügler zugereist, Ersatzmann des potentiellen Ersatzmanns Nico Schlotterbock. Auf einmal nun erste Wahl und dabei erstaunlich oft im Bildmittelpunkt. Tah hat sich zuletzt in Leverkusen umständehalber die Attitüde eines Abwehrchefs zugelegt, er ist dort aufgrund ständiger Improvisationen in die Rolle einer Leitfigur hineingewachsen. Dieses Selbstverständnis brachte er jetzt auch als Ersatzmann des Ersatzmannes zur Geltung. Marschierte gerne mal mit dem Ball am Fuß in die gegnerische Hälfte und betätigte sich als Spielgestalter. Beim zweitkniffligsten Moment, den die DFB-Defensive während der ersten Hälfte verzeichnete, bildete er gegen drei konternde Armenier ganz allein die deutsche Restverteidigung und machte das sehr geschickt. Ein Länderspiel-Einsatz, der zu seinen hohen Ambitionen passt.

Thilo Kehrer

Der Lieblingsspieler des Bundestrainers bzw. das "Schätzchen vom Zenturio", wie es in "Asterix der Legionär" heißt? Seit Hansi Flick die Aufstellung macht, hat Thilo Kehrer jedes Mal der Startelf angehört. Diesmal rechts außen in der Viererkette anstatt im Zentrum oder links wie in den vorigen Partien. Seine Vielfalt macht Kehrer so ergiebig. Dem offensiven Linienpartner Jonas Hofmann hielt er zuverlässig den Rücken frei, wurde dabei zunächst aber weitaus weniger gefordert, als wenn er es in Paris mit Racing Straßburg oder Stade Brest zu tun bekommt. Mit dem sehr lockenköpfigen Khoren Bayramyan bekam er in der zweiten Halbzeit mehr Arbeit.

Matthias Ginter

Nicht das Schätzchen des ehemaligen Zenturios Jogi Löw, aber einer seiner stets besonders geschätzten Mitarbeiter. In der Ära Flick ist der Mönchengladbacher Abwehrspieler ein wenig ins Hintertreffen geraten, was gewiss nicht daran liegt, dass der neue Intendant seine Qualitäten nicht zu schätzen wüsste. Ginter ist eher ein Systemverlierer, die neuen Stammspieler Hofmann und Kehrer haben ihn als universell einsetzbare Defensivkraft verdrängt. Am Sonntagabend in Eriwan war Ginter eher als Aufbau- denn als Abwehrspieler gefordert. Wehrte später sehr effektiv mit der Hüfte einen hochgefährlichen Schuss des sehr lockenköpfigen Bayramyan ab.

Ilkay Gündogan

Kann seinen Enkeln davon berichten, wie er einmal mit denkbar sparsamem Aufwand einen sogenannten Doppelpack für Deutschland hergestellt hat. Das 2:0 erzielte er per Elfmeter, das zweite per Zufall - der Torwart griff daneben. Ansonsten eine routinierte Vorstellung auf hohem Niveau. Gewann im Mittelfeld gegnerische Bälle, ohne sich dafür zerreißen zu müssen, und verteilte sie anschließend an die Mitspieler mit der Sicherheit des Präzisionstechnikers.

Florian Neuhaus

Was sein Mönchengladbacher Teamkollege Ginter in der Nationalelf erlebt, das erfährt Neuhaus gerade im Alltag in Mönchengladbach. Als Systemverlierer ist er in den Hintergrund geraten. Auf einen substanziellen Länderspiel-Einsatz musste er ebenfalls schon länger warten, und so stand er jetzt ein wenig unter Druck, sich wieder in den Blickpunkt zu kämpfen. Gelungen ist das nicht unbedingt. In der ersten Halbzeit verschuldete er mit einem Ballverlust die zweitkniffligste Szene, welche die deutsche Defensive zu meistern hatte, in der zweiten Halbzeit das Gegentor durch ein unnötiges Foul im Strafraum.

Leroy Sané

Der Mann, über den derzeit alle voller Ehrfurcht reden. Schaffte es am Donnerstag, selbst gegen einen Gegner wie Liechtenstein zu glänzen, was viel schwieriger ist, als es klingt. Gegen Armenien auch wieder höchst eifrig, aber nicht so wirkungsvoll. Die Beine waren bereit, aber ihm schien diesmal die geistige Frische zu fehlen.

Thomas Müller

Führte in Neuers Abwesenheit die Mannschaft als Kapitän aufs Feld, was er, soweit das von außen zu beurteilen war, ohne diplomatische Verwicklungen bewältigte. Bereitete wie üblich mehrere Tore vor, beim 1:0 als Autor des vorletzten Passes, beim 3:0 als direkter Vorlagengeber.

Jonas Hofmann

Als offensiver Rechtsaußen in der Rolle, die ihm am besten steht. Bereitete geradlinig das 1:0 vor und schoss zielsicher das 4:1, das die letzten Prozentchen Spannung aus dem Spiel nahmen. Sehr fleißig und sehr nützlich. Systemgewinner, hat Karriere gemacht in der Nationalmannschaft.

Kai Havertz

Pflegt gemeinhin seinen Gesichtsausdruck möglichst selten zu ändern. Nach einer Viertelstunde konnte er sich allerdings eines Lächelns nicht erwehren - Jonas Hofmanns exzellente Vorlage verlangte vom Torschützen Havertz eine freundliche Erwiderung. Das Mindestmaß seines Tagewerks hatte der Mann vom FC Chelsea damit erledigt: Ein Spiel ohne eigenen Torerfolg ist für ihn ein unbefriedigendes Spiel, als Mittelstürmer fühlt er sich daher gar nicht unwohl. Stellte nach dem 1:0 die Arbeit keineswegs ein, und blieb auch ohne weiteren Torerfolg ein wertvoller Mitarbeiter. Schlaue Pressing-Aktionen, da zeigte sich die Schule von Thomas Tuchel.

Einwechselspieler

Lukas Nmecha, Maximilian Arnold, Julian Brandt, Kevin Volland und Ridle Baku kamen noch in ein Spiel, das bei ihrer Einwechslung allerdings schon entschieden war. Keinem der Genannten gelang Außergewöhnliches.

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