Süddeutsche Zeitung

Einzelkritik:Atemnot im Strafraum

Lesezeit: 3 min

Ein Torschütze, der nicht zu beneiden ist, und ein Neuer in Bestform, ein Trainer, der sich herumschubsen lässt - die deutsche Mannschaft in der Einzelkritik.

Von Philipp Selldorf

Manuel Neuer: Schon in der ersten Minute gefordert - als linker Außenverteidiger. Schirmte den Ball gekonnt gegen einen nordirischen Eindringling ab. Ansonsten verbrachte Neuer viel Zeit mit Rumstehen, Zugucken und Selbstbeschäftigen, ein Programm, das er aus dem Münchner Alltag kennt und exzellent beherrscht.

Joshua Kimmich: In seinem ersten ernsten Einsatz für die Nationalelf auf langen Wegen gefordert. Kimmich erhielt den Vorzug vor Benedikt Höwedes, weil er die rechte Seite offensiv bespielen sollte. Dass dies eine gute Idee sein kann, das gab er ohne Eingewöhnungsphase zu erkennen. Besitzt Cleverness, Gefühl und Übersicht für den richtigen Pass, leitete damit mehrere dicke Chancen ein. Beeindruckend angeschnittene Flanken kann er auch schlagen. War das deutsche Angriffsspiel mit Höwedes deutlich linkslastig, so war es nun mit Kimmich relativ rechtslastig. Sicherlich nicht der letzte Auftritt bei diesem Turnier.

Jérôme Boateng: War nicht der Man of the Match wie im Spiel gegen Polen und zog auch keine bewundernden Blicke auf sich, indem er mit Scherenschlägen den Ball in den Weltraum katapultierte oder mit erbarmungslosen Grätschen die gegnerischen Stürmer aufhielt. Grund: Die Nordiren gaben ihm mangels Anwesenheit in der deutschen Abwehrhälfte keine Gelegenheit dazu. Wurde einmal ausgespielt und überlaufen. Aber auch nur ein einziges Mal.

Mats Hummels: Keine Angst vor großen Namen. Trat ganz allein gegen Washington an (wenn auch nicht gegen Washington DC oder Washington George, sondern Washington Conor von den Queens Park Rangers). Obsiegte standhaft in diesem und in anderen Mann-gegen-Mann-Duellen.

Jonas Hector: Als Linksverteidiger weitgehend arbeitslos, als Flügelspieler angestrengt im Dauereinsatz. Nicht brillant, aber zuverlässig. Nicht gut, aber auch nicht schlecht. Gab keinen Grund zur Begeisterung, keinen Grund zur Beunruhigung.

Sami Khedira: Energisch darum bemüht, das deutsche Spiel aus der Tiefe anzukurbeln und die gegnerische Deckung mit Pässen zu entblößen. Oft erkannte er die freien Räume für das steile Zuspiel, aber regelmäßig verrutschten ihm die Bälle auf dem Fuß um entscheidende Kleinigkeiten.

Toni Kroos: Viele Ballkontakte, viele Aktionen im Spielaufbau, viele Zuspiele an den richtigen Mitspieler, die zu 102 Prozent ihr Ziel erreichten. Die dominante Bedeutung fürs große Ganze hatte Kroos diesmal nicht, was vor allem daran lag, dass Özil, Müller, Götze und Kimmich besser im Spiel waren. Kroos durfte sich somit auf die wesentlichen Aufgaben beschränken, die in der hinteren Linie anfielen.

Thomas Müller: Kürzlich nach dem Spiel gegen Polen hatte er sich besorgt gezeigt, weil er neuerdings keine Torchancen mehr bekäme - gegen Nordirland tat sich davon ein ganzes Füllhorn auf. Jetzt gibt es neue Sorgen für Müller: Er lässt zu viele Torchancen aus. Mal traf er den Torwart, mal die Werbebande, mal die Latte. Bereitete das 1:0 dadurch vor, dass er nicht versuchte, ein Tor zu schießen. In der zweiten Hälfte weniger umtriebig, weshalb er weder Chancen hatte noch welche vergab.

Mesut Özil: Hatte nach wenigen Spielminuten die Chance zum 1:0, vergab kläglich (indem er am Ball vorbeitrat). Gegen die robusten Nordiren, die mit allen Mann die Bewegungsfreiheit am Strafraum einschränken, würde sich der filigrane Özil womöglich schwer tun, hatte man gedacht. Hatte man aber falsch gedacht. Özil wusste sich sowohl zu wehren, als auch sein filigranes Spiel zu verwirklichen. Bot sich an, spielte feine Pässe in die Spitze und half einmal sogar unter Sonderapplaus in der Abwehr aus. Und hier noch eine Seite-1-Meldung: Einen Gewaltschuss gab er auch ab.

Mario Götze: Hatte nach wenigen Spielminuten die Chance zum 1:0, vergab recht kläglich (indem er den Torwart anschoss). Arbeitete als Zulieferer der Offensive und als erweiterte Strafraumbesetzung mit wechselhaftem Erfolg. Mal bewundernswert kämpferisch und bereit sich restlos reinzuhauen, mal nachlässig und vergesslich. Mal hochgefährlich, weil er sich immer wieder kunstvoll in Schussposition brachte, mal völlig harmlos, weil er seine Chancen kunstvoll ausließ. Götzes Börsenwert auf dem Transfermarkt fiel und stieg szenenweise jeweils in Millionenbeträgen.

Mario Gomez: Für seine erste wertvolle Aktion verwendete er die enorm breite Gomez-Brust. So entstand ein feiner Pass, der Müller im Strafraum freistellte. Ansonsten war der Mittelstürmer nicht zu beneiden um seinen Job im überfüllten nordirischen Strafraum, in dem ihm gelegentlich Atemnot drohte. Ließ manche exzellente Torchance aus, schoss aber mit Hilfe eines im Weg stehenden nordirischen Beins das goldene 1:0. Erfüllte nicht nur deshalb die Erwartungen, die man gemeinhin an einen Mittelstürmer stellt.

André Schürrle: Der Joker vom Dienst konnte auch in 30 statt der üblichen 15 Minuten keinen bleibenden Eindruck hinterlassen. Rannte die Linie lang und schlug kilometerhohe Flanken, die nur der Riese Gulliver hätte nutzen können.

Bastian Schweinsteiger: Soll allmählich an den höheren Turniermodus herangeführt werden. Nahm den Platz von Khedira ein und dirigierte in gemessenem Tempo aus dem Hintergrund.

Benedikt Höwedes: Ersetzte den angeschlagenen Boateng und durfte sich ausnahmsweise auf seiner Stammposition als Innenverteidiger betätigen.

Andreas Köpke: Der Torwarttrainer simulierte beim Flankentraining vor dem Spiel den nordirischen Prellbock, der Deutschlands Torwart das Bällefangen erschweren sollte. Stand fachgerecht im Weg herum und ließ sich von Neuer zur Seite stoßen, schubsen und schieben.

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SZ vom 22.06.2016
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