Für Torsten Lieberkecht hat das veraltete Motto, dass Männer nicht weinen, nie gegolten. Im Jahr 2013 flossen bei dem Trainer die Tränen, als er Eintracht Braunschweig erstmals nach 28 Jahren wieder in die Bundesliga geführt hatte. Auch nach dem Abstieg ein Jahr später haben ihn die Emotionen übermannt, ebenso wie nun Ende Januar, als er nach dem 3:1-Sieg in Aue davon sprach, dass diese Partie womöglich sein "Endspiel" als Coach der Eintracht hätte sein können. Er blieb, aber es waren immer noch nicht genügend Tränen geflossen. An diesem Sonntag, nach dem 0:2 gegen Ingolstadt, war es erneut so weit: Nach der Niederlage, die die Eintracht im Abstiegskampf der zweiten Liga auf den Relegationsplatz abrutschen ließ, flossen beim 44-Jährigen wieder heftig die Tränen. Und die Fans, die sonst gerne mal erfolglose Trainer fortjagen, haben ihn getröstet.
Kurioserweise wusste Vereinspräsident Sebastian Ebel auf die Frage, ob der angeschlagene Coach im letzten Spiel beim Tabellendritten Holstein Kiel am kommenden Sonntag noch auf der Bank sitze, spontan keine Antwort: "Ich habe ihn eben gesehen. Keine Ahnung." Denn Lieberknecht war mit sich selbst hart ins Gericht gegangen. "Dafür bin ich ganz alleine verantwortlich, für die gesamte Saison. Das, was wir uns vorgenommen haben, hat nicht funktioniert."
Und bezogen auf das aktuelle Ingolstadt-Spiel: "Es ist Fakt, dass es meine Fehlleistung war, die Mannschaft nicht perfekt auf dieses Spiel vorbereitet zu haben. Es ist ein Tag, der sehr weh tut." Es fühlt sich für den gebürtigen Pfälzer gerade offenbar so an, als gleite ihm sein Lebenswerk durch die Finger.
Lieberknecht wird Braunschweig am Saisonende wohl verlassen
Am 12. Mai ist es exakt zehn Jahre her, dass der frühere Eintracht-Profi zum Chefcoach ernannt wurde. Und zwar in einer Situation, in der die Braunschweiger fast in die vierte Liga abgestiegen wären, wenn der emotionale Wahl-Niedersachse nicht aus den letzten drei Spielen sieben Punkte geholt hätte. "Das war die Basis" für den Aufschwung, so sagt es Lieberknecht selbst. Ein Aufschwung, der den Klub vor zwölf Monaten im 50. Jahr nach dem einzigen deutschen Meistertitel 1967 fast wieder in die erste Liga geführt hätte.
Am Ende fehlte bei den Relegationsspielen nicht viel gegen den nur 37 Kilometer entfernten Nachbarn VfL Wolfsburg, der über ein Vielfaches des Eintracht-Etats verfügt. Zwei 0:1-Niederlagen zerstörten den Traum vom Aufstieg. Dennoch startete die Eintracht als Mitfavorit in die aktuelle Zweitliga-Saison, eine Weiterentwicklung des Teams blieb aber aus. Die Zugänge funktionierten nicht wie in den Jahren zuvor, mancher wichtige Profi fiel längere Zeit aus. Und wie es so ist im Misserfolg, bekam offenbar auch die Freundschaft zwischen Lieberknecht und Manager Marc Arnold erste Risse. Inzwischen ist man in der Führungsetage offenbar einig, dass der im vergangenen Jahrzehnt zu einer Art Klub-symbol aufgestiegene Lieberknecht trotz seines Vertrages bis 2020 nach der Saison nicht weitermachen soll.
Diese Gedanken waren wohl schon im Januar so weit gediehen, dass Lieberknecht damals in bewährt emotionaler Manier von einem "Endspiel" sprach. Nur die Fans möchten den in Braunschweig verwurzelten Pfälzer nicht gehen lassen, weil er ihre Liebe zum Klub teilt wie sonst kaum ein Trainer. "Treue macht unsterblich", schrieben sie vor dem Ingolstadt-Spiel auf ein Transparent, während sie Arnold beschimpften. Schon im Januar bedankte sich Lieberknecht bei ihnen: "Diese Zuneigung kann man sich nicht kaufen. Das ist ein unmessbarer Wert, dass man seine Arbeit wertgeschätzt bekommt", sagte er damals. Vermutlich rettete diese Zuneigung damals auch den Job. Und jetzt?
Uninspiriertes und angezähltes Eintracht-Team
Kritiker sehen derzeit ein uninspiriertes und angezähltes Eintracht-Team. Nach dem 0:1-Rückstand gegen Ingolstadt sei "überhaupt keine Ordnung mehr im Spiel" gewesen, diagnostizierte Lieberknecht selbst. In der Braunschweiger Zeitung hat ein Leser die Spielweise so beschrieben: "Mit den Leistungen der letzten Wochen wird es selbst in der dritten Liga schwer." Jener Kick-and-Rush-Fußball, den der England-Fan Lieberknecht bei der Eintracht spielen lasse, werde selbst auf der Insel längst nicht mehr gespielt - auch so was findet man in den Leserbriefspalten.
Nun hoffen die Braunschweiger erst mal darauf, dass Holstein Kiel, ihr Gegner am letzten Spieltag, womöglich schon Kräfte für das vier Tage später anstehende erste Relegationsspiel zur ersten Liga sparen will. Lieberknecht will sein Lebenswerk noch mal retten. Doch in die Kategorie von Volker Finke (16 Jahre in Freiburg) und Thomas Schaaf (14 Jahre in Bremen) wird er es wohl nicht mehr schaffen.