Süddeutsche Zeitung

Eintracht Braunschweig:Ein unvorhersehbarer Aufstieg

In der Vorsaison noch fast abgestiegen, gelingt Eintracht Braunschweig nun der Sprung in die zweite Liga. Dem früheren Herzenstrainer Torsten Lieberknecht könnte der Klub damit erneut wehtun.

Von Jörg Marwedel

Am Schluss standen die Spieler von Eintracht Braunschweig nach ihrem schwer erkämpften 3:2-Sieg gegen Waldhof Mannheim Arm in Arm vor der Leinwand im Stadion an der Hamburger Straße. Denn eine Partie des vorletzten Drittliga-Spieltags war wegen einer Regenpause noch nicht zu Ende. Dort spielte der Aufstiegskonkurrent Duisburg bei Tabellenführer FC Bayern II, der MSV führte 2:1.

Doch plötzlich brachen alle Dämme in Braunschweig: Leon Dajaku hatte den Ball in der Nachspielzeit zum Münchner 2:2 ins MSV-Tor getreten. Nach diesem Unentschieden 600 Kilometer südlich können die Duisburger die Braunschweiger nicht mehr von einem direkten Aufstiegsplatz zur 2. Bundesliga verdrängen; ebenso wenig wie der FC Ingolstadt (0:2 gegen Magdeburg). Die Eintracht-Profis vergaßen danach alle Abstandsregeln: Bierduschen, Jubeltänze, Freudentränen - alles war dabei.

"Das ist ein Stück Fußball-Geschichte", sagte Tobias Rau, ehemals Nationalspieler und heute Aufsichtsrat in Braunschweig. Sportdirektor Peter Vollmann hatte zuvor "einen Herzinfarkt nach dem anderen" erlitten. Mehrere tausend Fans zündeten vor den Augen der Spieler, die an den Hinterausgängen der Haupttribüne das Spektakel verfolgten, ein Feuerwerk. So mancher Autokorso machte die Stadt unsicher, um die Rückkehr des deutschen Meisters von 1967 in die zweithöchste Liga zu feiern. Präsident Sebastian Ebel sendete den Fans ein "riesengroßes Dankeschön". Sie seien, "auch wenn die Tribünen leer waren, immer an unserer Seite gewesen".

Fußball-Geschichte ist der Aufstieg der Eintracht in mehrerlei Hinsicht. Einerseits wegen der Achterbahnfahrt des Klubs in den vergangenen drei Jahren. 2017 wäre der Traditionsklub fast in die Bundesliga zurückgekehrt (Braunschweig verlor die Relegation gegen den Nachbarn Wolfsburg), 2018 folgte der völlig überraschende Abstieg aus Liga zwei - mit Vollbluttrainer Torsten Lieberknecht, der jetzt Duisburg coacht und so am Mittwoch in einer tragenden Nebenrolle erneut mit dem Eintracht-Schicksal verknüpft war. 2019 verhinderte Braunschweig erst am letzten Spieltag mit einem glücklichen 1:1 gegen Cottbus um Haaresbreite den Sturz in Liga vier.

Andererseits ist Braunschweig ein wahrer Corona-Aufsteiger. Trainer Marco Antwerpen, 48, nutzte die Zwangspause offenbar besonders gut, um an der Spielidee zu feilen. Bevor die Pandemie die Saison für mehr als zwei Monate stoppte, lag man nur auf Platz neun. Ganz oben in der Tabelle standen Duisburg, Mannheim und Unterhaching, die aber alle schlecht aus der Pause kamen. Nur die Duisburger haben aus diesem ehemaligen Spitzentrio jetzt noch die Chance auf den Relegationsplatz. Die aktuellen ersten Drei - FC Bayern II (kein Aufstiegsrecht), Braunschweig und Würzburg - waren hingegen zur Lockdown-Zeit nur Nachbarn im Tabellenmittelfeld. Von zehn Spielen nach dem Neustart gewann die Eintracht sieben. Das reichte zum Aufstieg, während Lieberknecht, der 2018 beim Abstieg viele Tränen vergoss, bei einem Scheitern mit Duisburg am Samstag vielleicht wieder weinen muss - und wieder wäre indirekt die Eintracht schuld.

Der Eintracht-Aufstieg war nicht vorhersehbar. Kurz vor der Saison ging Trainer André Schubert von Bord, um beim Zweitligisten Kiel anzuheuern. Sein Nachfolger Christian Flüthmann wurde im November auf Rang fünf entlassen. Es kam Marco Antwerpen, der im Umfeld ebenfalls bald umstritten war. Die Vertragsverlängerung des Aufstiegstrainers ist auch noch nicht fix, obwohl Sportchef Vollmann lobt, Antwerpen habe "Überragendes" während der Corona-Krise geleistet. Trotzdem monierte die Braunschweiger Zeitung, das Spiel der Eintracht sei oft "destruktiv" und lebe vor allem von "guten Umschaltmomenten".

Antwerpen ("der größte Erfolg der Karriere") hatte aber auch eine gute Idee. Er machte zuletzt den erfahrenen Zentralspieler Stephan Fürstner, 32, zum Abwehrchef - eine lohnende Maßnahme. Der gebürtige Münchner hat nicht nur einen famosen Überblick, sondern gilt auch als "großer Kommunikator". Zudem hat die Eintracht einen echten Torjäger gefunden: Martin Kobylanski, 26, der gegen Waldhof seine Treffer 17 und 18 erzielte, darunter das goldene Aufstiegstor zum 3:2 (73.). Der Pole, in Berlin geboren, begann seine Profilaufbahn in Cottbus. Bei Werder Bremen konnte er sich nicht durchsetzen, bestritt aber immerhin acht Bundesligaspiele.

Dank des Aufstiegs können die Braunschweiger ihre Corona-verstärkte Finanzkrise besser bewältigen. In der 3. Liga kassierten sie nur 1,1 Millionen Euro Fernsehgeld, in der 2. Bundesliga könnte es wieder ein zweistelliger Millionenbetrag sein; im Abstiegsjahr 2018 waren es 15 Millionen. Aber kann der Klub diesem Aufschwung langfristig trauen? "Ich weiß gar nicht, wie ich das einordnen soll", sagte der 35 Jahre alte Mittelfeldspieler Marc Pfitzner. Er habe mit diesem Verein schon so viel erlebt. Ob man bald wieder mal in Richtung erste Klasse schauen kann oder ob schnell wieder die dritte droht - schwer zu sagen.

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SZ vom 03.07.2020/tbr
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