Eintracht Braunschweig:Löwen, die wie junge Pferdchen spielen

Torsten Lieberknecht

Braunschweigs Fans verehrten ihren ehemaligen Trainer Torsten Lieberknecht lange - auch im Misserfolg. Heute ist André Schubert der Coach.

(Foto: dpa)

Eintracht Braunschweig, deutscher Meister von 1967, ist Letzter der 3. Liga - es mangelt an sportlicher Weitsicht und Reife. Ortsbesuch bei einem Traditionsklub, der bald verschwinden könnte.

Reportage von Thomas Hahn, Braunschweig

Pfitzner freut sich nicht. Er denkt gar nicht daran, sich zu freuen. Er wundert sich eher, denn wer hätte sich ausmalen können, dass er noch mal so gefragt sein könnte bei Eintracht Braunschweig, seinem Herzens- und Heimatverein? Die Lokalzeitung schrieb früh über Pfitzners mögliches Comeback bei den Profis gegen Halle. Am vergangenen Samstagmittag war alles klar: "Pfitzner spielt" - die Nachricht verbreitete sich wie eine Heilsbotschaft an der Hamburger Straße.

Marc Pfitzner. Alter Löwe. Kämpfer für die gelb-blaue Sache. Im Sommer ist er mit Werder Bremen II in die Regionalliga abgestiegen, die Eintracht holte ihn für das Reserveteam zurück. Egal. Identifikationsfiguren mit Erfahrung werden gebraucht - jetzt, da die erste Mannschaft im Drittliga-Keller gestrandet ist. Und Pfitzner spielte gut gegen den Halleschen FC, ordnete das defensive Mittelfeld, gewann Zweikämpfe. Jetzt steht er vor den Reportern, lässt sich nicht aus seiner Bescheidenheit locken. Er klingt fast entschuldigend: "Ich weiß, dass ich 34 bin. Dass ich in der Oberliga gespielt habe." Pfitzner gehört nicht hierher, alle wissen es. "Aber wenn ich helfen kann ..."

Wenn ein ehrenwerter, nicht mehr ganz junger Durchschnittsfußballer wie Marc Pfitzner helfen kann, ist das nicht unbedingt ein gutes Zeichen für einen Traditionsverein wie Eintracht Braunschweig.

Der Klub steckt gerade in einer Krise, die über die üblichen Niederlagenserien hinausreicht und die vor allem deshalb die Fußballrepublik verstört, weil Eintracht Braunschweig - Bundesliga-Gründungsmitglied und Deutscher Meister von 1967 - doch eigentlich schon aus dem Gröbsten raus war. Noch im Sommer 2017 wäre die Eintracht fast in die Bundesliga zurückgekehrt. Die Niederlage in der Relegation gegen den VfL Wolfsburg war knapp. In diesem Sommer verschlug es die Mannschaft dann am letzten Spieltag 2017/18 plötzlich in die Abstiegszone der zweiten Liga. Und jetzt? Vier Punkte Rückstand auf den Vorletzten in der dritten Liga. Immerhin gelang der Mannschaft zum Hinrundenabschluss an diesem Samstag bei Energie Cottbus der zweite Saisonsieg - aber natürlich würde das nicht reichen, um den Absturz abzuwenden.

Was ist passiert? Diese Frage treibt fast alle in der niedersächsischen Stadt. Braunschweig hat 250 000 Einwohner, eine starke Wirtschaft, ein starkes Forschungswesen, eine reiche Geschichte - und die Entwicklung der Eintracht passte lange zum vitalen Standort. 2008 hätte der Klub fast die Qualifikation zur neuen dritten Liga verpasst, ehe der damalige A-Jugendtrainer Torsten Lieberknecht den Job von Coach Benno Möhlmann übernahm.

Es begann eine fruchtbare Zeit, die der frühere Eintracht-Spieler Lieberknecht mit Fußballverstand und Leidenschaft prägte. Nach und nach bekam der Klub alles, was ein Fußballunternehmen braucht: ausgegliederte GmbH, renoviertes Stadion, neue Trainingsanlage, Nachwuchsleistungszentrum, Aufstiege. Eintracht Braunschweig machte sich einen Namen "als kleiner Pissverein" (Lieberknecht), der sich auch durch den Bundesliga-Abstieg 2014 die Laune nicht verderben ließ.

So hätte es weitergehen können, aber die Fliehkräfte des Fußballs waren stärker. Mit Rekordetat startete die Mannschaft in die Zweitligasaison 2017/18. Trotzdem lief es nicht gut. Kritik am Trainer brandete auf. Die Eintracht-Gemeinde spaltete sich auf in Lieberknecht-Anhänger und Lieberknecht-Gegner. "Das färbt dann eben auch auf die Mannschaft ab", sagt Robin Koppelmann, Sprecher des Fanrats und des Mitgliederbündnisses "Initiative Eintracht". Am letzten Spieltag führte Braunschweig zwei Mal bei Holstein Kiel - und verlor 2:6. Abstieg. Tränen.

Torsten Lieberknecht musste gehen, und mit ihm verschwand praktisch der komplette Fußballverstand von Eintracht Braunschweig. So zumindest sieht es Koppelmann: "Man hat sich zu lange auf Lieberknechts Erfolg und Kompetenz ausgeruht, wir hatten gute Menschen der Wirtschaft, aber keine Menschen für das Sportliche."

André Schubert soll die vierte Liga verhindern - ohne Zugänge im Winter geht das wohl nicht

Die Wirtschaftsmenschen holten als neuen Trainer Henrik Pedersen, 40, einen netten Dänen, der mal Nachwuchstrainer bei Red Bull Salzburg war, und sie stellten einen Kader aus unerfahrenen Spielern zusammen. Die dritte Liga überforderte alle.

Das Spiel gegen Halle: 16 750 Zuschauer sind da bei grauem Dezemberwetter, viele Plätze bleiben leer. Es ist das letzte Heimspiel vor Weihnachten, in der Nordkurve inszenieren die Fans ihren Eintracht-Kult. Sie rollen ein Transparent auf. Es zeigt den Meisterspieler Jürgen Moll und seine Frau Sigrid, die 1968 bei einem Autounfall ums Leben kamen: "Das Leben ist endlich, ewig die Erinnerung", steht auf dem Transparent, das Klubwappen auf Molls Brust beleuchtet ein roter Feuerwerkskörper.

Es sieht aus wie ein brennendes Herz, und die Kurve singt: "Deutscher Meister, deutscher Meister / in den Farben Gelb und Blau / Neunzehnhundertsieb'n'sechzig, das war unser BTSV." Dann beginnt das Spiel. Torwart Kruse irrt durch den Strafraum. Der Ball schlägt aus spitzem Winkel ein. 1:0 für Halle, zweite Minute.

Sebastian Ebel, der Präsident, klingt mitgenommen und auf eine freundliche Art zerknirscht. Im wirklichen Leben ist Ebel leitender Manager einer Tourismus-firma. Ihn und Geschäftsführer Soeren Oliver Voigt meint Koppelmann, wenn er von "guten Menschen der Wirtschaft" spricht. Ohne Ebels und Voigts Konsolidierungskurs wäre die Eintracht heute wohl ein Chaosverein ohne Eigenkapital, den die aktuelle Krise tatsächlich in den Bankrott treiben würde. Einsparungen werden unvermeidlich sein, aber einen echten Eintracht-Untergang befürchtet Ebel nicht.

Eine Krise wie eine Naturgewalt

Ihn treibt etwas anderes um: Ebel lernt gerade, dass Management-Qualität nicht vor schlechtem Fußball schützt. Die sportliche Krise kommt ihm vor wie eine Naturgewalt, die stärker ist als seine kaufmännische Vernunft. In der Abstiegssaison stand er zum bewährten Lieberknecht - warum auch nicht? "Ich konnte mir nicht vorstellen, dass man in sieben Spielen nur zwei Punkte holen kann. Ich habe das nicht gesehen, dass es solche Abnutzungserscheinungen gibt."

Und der Abstieg brachte einen Bruch mit dem Gewohnten, Verträge wurden ungültig, neue Begehrlichkeiten stellten sich ein. "Es ist nicht gelungen, mehr Spieler zu halten", sagt Ebel, "teilweise weil die Spieler nicht wollten, teilweise weil wir nicht wollten." Und nun? Noch Hoffnung? Natürlich, mit dem einen oder anderen Zugang in der Winterpause: "An Marc Pfitzner kann man doch sehen, was ein Einzelner für einen Unterschied machen kann."

Pfitzner, richtig. André Schubert fand ihn auch gut beim 0:1 gegen Halle. Schubert ist der Trainer, der auf Pedersen folgte, ein aufgeräumter Mensch, der schon Paderborn, St. Pauli und Mönchengladbach trainierte. Er muss die Rettung organisieren und weiß, dass dies ohne Verstärkungen eher nicht gelingen wird. Er mag sein neues Team. Er hat grobe taktische Fehler abgestellt. Er verteidigt die 19-jährigen Startelf-Talente Leon Bürger und Yari Otto. Aber natürlich sieht er ihre Defizite: leichte Ballverluste, falsche Entscheidungen, gerade im Vergleich zu Pfitzner.

Halle war robust, konterstark, eine Nummer zu groß für die feinfüßigen, zuweilen übereifrigen Jungen. Pfitzner besetzte in Seelenruhe die Mittelfeldzentrale, setzte Grätschen im richtigen Moment, spielte sichere Bälle, rieb sich nicht auf. "Und daneben siehst du eine ganze Reihe junger Pferdchen, bei denen man merkt, dass sie in vielen Eins-zu-eins-Situationen zu unclever sind", sagt Schubert, "da werden sie gestoßen, da fallen sie um, weil sie diese Robustheit noch nicht haben."

Schubert mag es, wie klar die Wahrheiten des Spiels manchmal sind. Allerdings sagen ihm diese Wahrheiten auch, dass er die Mannschaft in der aktuellen Besetzung wohl nicht vor dem Abstieg retten kann: "Wir brauchen ein paar deutliche Veränderungen im Kader", sagt er. Man arbeitet daran, "da können Sie sicher sein".

Die ganze Eintracht verändert sich gerade. Geschäftsführer Voigt geht, nachdem die "Initiative Eintracht" seinen Rücktritt gefordert hat. Ebel will sich bis Ende 2019 zurückziehen. Eine neue Zeit bricht an beim Traditionsklub. Und Pfitzner ist dabei, wer hätte das gedacht?

Er war in Braunschweig nie der klassische Stammspieler, eher ein nützlicher Teamsoldat, der seine ersten Erfahrungen im Erwachsenenfußball beim Kreisligisten TSV Timmerlah gemacht hatte und binnen neun Jahren bei der Eintracht in allen Klassen von der Regionalliga bis zur Bundesliga verlässlich zur Stelle war. Pfitzner ist ein leiser Mann mit freundlichen Augen und Dreitagebart. Nach der Partie gegen Halle sagt er: "Ich muss jetzt mal besprechen, wie das weitergeht." Für Schubert ist das keine Frage. Pfitzner spielt. Auch in Cottbus. Dort half an diesem Wochenende der Gegner mit - die Eintracht gewann durch ein Eigentor 1:0. Es war der erste Sieg nach zwölf erfolglosen Partien.

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