Editorial:Wie im Film mit S

Über die Vierschanzentournee 2021 zu berichten, das bedeutet, alleine im Hotel zu sein. Tatsächlich: ganz alleine.

Von Volker Kreisl

Das Hotel lag außerhalb der Stadt, direkt an der Landstraße, auf der hin und wieder ein Auto vorbeifuhr. Die Fassade war hoch, vier Stockwerke, der Parkplatz leer, hinter dem Anwesen begann der Wald.

Die Kälte scheuchte mich ins Warme, an den Empfangstresen, hinter dem eine Rezeptionistin lächelte. Small Talk folgte, dann etwas gemeinsames Klagen über Corona, die verbotenen Privatgäste und die stornierten Geschäftsreisen, ja, "Reisezweck ist Vierschanzentournee in Oberstdorf". Personalausweis über den Tresen, Schlüsselkarte zurück, aber übrigens, eins noch: "Sie haben das Hotel heute Nacht für sich allein!" - "Äh, ganz allein?" - "Ja." - "Und Sie?" - "Wir sind nachts weg, weil zu wenig Gäste." - "Also ganz allein?" - "Ja." - "Oh."

Der Weg aufs Zimmer führte in den Südflügel. Zwei Stockwerke hinauf, dann durch einen langen Korridor, eine knarzende Treppe noch und schließlich das Zimmer: 307. Die Tür fiel ins Schloss und die Nacht senkte sich über den Wald, das Hotel und seinen einzigen Gast.

Es war still. Kein Geräusch. Nein, bloß keine Gedanken an diesen Film, in dem es um einen Aufenthalt in einem leeren Großhotel in Winterlandschaft geht, dann um Wahnsinn und so. Das Bild mit Jack Nicholsons teuflischer Grimasse und der Axt in der Tür lässt sich irgendwie verdrängen, fast zumindest. An den Film-Titel, ein englisches Wort, das mit S beginnt, zu denken oder ihn gar zu murmeln? Tabu.

Wer alleine auf einem dunklen, fremden Planeten überleben will, der hat zwei Möglichkeiten. Entweder er verkriecht sich im Boden, oder er macht sich mit der Umgebung vertraut. Die Gänge waren mit schrittdämpfendem Teppich bezogen, grob gerechnet hatte das Haus 40 Zimmer. Der Aufzug funktionierte, aber die Treppe erschien angenehmer, weil nicht so eng, auf einen Angreifer konnte man sich da besser einstellen.

Als der erste Morgen über einem Panorama mit See und Kirchturm erwachte, verließ ich das leer daliegende Haus, fuhr gut gelaunt zur Arbeit. Im Dunkeln ging es zurück, immer noch recht heiter, aber ich hätte die Eingangstür nicht überprüfen sollen. Sie schloss nicht. Sie klappte zu und auf wie eine Saloontür. Die Schlüsselkarte half auch nicht. Das bedeutete: Ich war allein, in einem großen dunklen Haus neben dem Wald, mit offenem Eingang.

Ab sofort war Verkriechen angesagt. Dort oben im Zimmer war relative Sicherheit möglich. Gestört nur durch kleinere Geräusche. Einmal war ein Jammern unter der Dusche zu hören, aber es kam nur aus dem Wasserschlauch. Beim Eintritt ins Zimmer klapperte etwas, ah: die Tür, vom Luftzug. Allein im Großhotel zu sein, schärft die Sinne. Die Stimmung geht auf und ab. Einmal in den vergangenen Jahren, in den Rauhnächten der Tournee, trommelte wirklich mal ein Idiot mit Fäusten gegen die Hotelzimmertür. Diesmal aber passierte nichts.

In der dritten Nacht, plötzlich, war da ein Brummen: eine Fliege! Im Dezember! Viele ihrer Artgenossen habe ich schon erschlagen, und das ist schlimm. Aber diese Fliege durfte nun surren und brummen. Denn wir zwei waren die einzigen Überlebenden auf dem fremden Stern, über dem am nächsten Morgen wieder die Sonne aufging, und die Vierschanzentournee weiterzog.

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