Dynamo Dresden:Der Mathematiker im Mittelfeld

SG Dynamo Dresden v Eintracht Braunschweig - Second Bundesliga; Hartmann

Marco Hartmann steht mit Dynamo Dresden auf dem fünften Platz.

(Foto: Bongarts/Getty Images)
  • Dynamo Dresden ist nach Jahren des Chaos plötzlich Fünfter der zweiten Liga. Ein Ergebnis der neuen Ruhe im Verein.
  • Großen Anteil daran hat Marco Hartmann - ein ungewöhnlicher Profi.

Von Cornelius Pollmer, Dresden

Im April 2013 unterschrieb Marco Hartmann einen Vertrag bei seinem neuen Arbeitgeber, der SG Dynamo Dresden. Als Freunde ihn fragten - Marco, was ist das für ein Verein, zu dem du gehst? -, hätte Hartmann lang erzählen können. Von der Tradition Dynamos, von dem immer noch neuen Stadion, von den durchaus besonderen Fans. Leichter und wirkmächtiger aber war es, ein kleines Video bei Youtube aufzurufen, das wenige Tage vor der Bekanntgabe von Hartmanns Wechsel gedreht worden war - und das alle drei Hauptargumente in bewegtem Bild vereinte: die Tradition, das Stadion, die Fans.

Dynamo Dresden hatte soeben seinen 60. Geburtstag gefeiert, und die Fans hatten dem Stadion deshalb ein schwarz-gelbes Balzkleid von einer Pracht angezogen, wie in der Stadt zuvor wohl noch nie eines gesehen worden war. Von jedem Platz wedelte oder glänzte ein Fetzen Leidenschaft, und auf der Pressetribüne wechselte sich ein Reporter selbst ein, zu hören aus dem Off des Videos: "Ich bin irgendwie stolz, diesen Verein begleiten zu können." Marco Hartmann und seine Freunde schauten also diesen kleinen Film an, dann sagte er: krass, und da wechsle ich jetzt also hin.

18 Spiele - an allen hat Hartmann teilgenommen und Dynamo Struktur gegeben

Krass, das ist ein Adjektiv, das sich Verein und Fanszene redlich und unredlich verdient haben, im Guten wie im Schlechten. Lange war dieses Adjektiv auch eine treffende Charakterisierung der Strukturen im Verein. Das Chaos der Vergangenheit lebt - längst nachkoloriert - fort in irgendwie lustigen Geschichten. Diese erzählen von Rolf-Jürgen Otto und seiner Hütchenspiel-Präsidentschaft in den Nach-Wende-Jahren. Oder von vielen Trainern, die es in Dresden zerlegt hat wie den vermutlich immer noch fassungslosen Rolf Schafstall ("Kein Anstand, alles Ossis!").

Aber Chaos bleibt Chaos, so dick es auch angestrichen ist, und gerade weil es Dynamo Dresden über so viele Jahre klein gemacht und klein gehalten hat, ist gegenwärtig Erstaunliches festzuhalten: Der Aufsteiger Dynamo liegt in der zweiten Bundesliga auf Platz fünf und hatte sich nach der Hinserie sogar fast ein wenig geärgert, weil durchaus ein paar Punkte mehr drin gewesen wären. Über das Personal wiederum ärgert sich, anders als in der Vergangenheit, gerade kaum jemand. Der Sportdirektor heißt seit drei Jahren Ralf Minge, der Trainer seit bald zwei Jahren Uwe Neuhaus, der Kapitän seit dieser Saison Marco Hartmann. Drei tendenziell ruhige Typen in einem chronisch überhitzten und nervösen Umfeld. Die erste Frage ist da nicht, ob das gut gehen könne. Die erste Frage ist, ob es anders hätte gut gehen können.

Zwar wachsen um Marco Hartmann, 28, seit einer Weile Gerüchte, er könnte sich aus diesem Gefüge nach der Saison lösen, vielleicht Richtung England. Bislang aber steht zu Buche: 18 Spiele, an denen allen er teilgenommen und der Mannschaft im defensiven Mittelfeld Struktur gegeben hat. Mit seiner Wohlüberlegtheit, aber auch mit einem anderen Charakterzug, den er in seiner Jugend entdeckte.

Vom AfD-Ergebnis in Sachsen-Anhalt war Hartmann enttäuscht

Bei einem Landesfinale im Crosslaufen in Thüringen sei er einst Vierter geworden. "Ich war danach körperlich am Ende und habe erst einmal eine Minute geheult", erzählt er: "Da war so ein innerer Druck, mit dem ich nicht umgehen konnte, ich kam mit meinem Antrieb nicht zurecht." Hartmann wollte von sich aus zu viel, und das war auch noch so, als er längst Fußball spielte, in Halle, und als sein damaliger Trainer Sven Köhler ihm sagte: Marco, du musst im Training mal runterfahren, sonst kann ich dich nicht aufstellen am Wochenende, du machst dich kaputt.

Er glaube, sagt Hartmann, dass dieser mitunter zwanghafte Antrieb viele Sachen in seinem Leben zum Guten bewegt habe. Als Beleg dafür ist das Studium der Mathematik zu nennen, von dem er zu Beginn noch dachte, es bleibe für gewisse Zeit das wichtigste Vorhaben seines anwachsenden Lebens. "Der Fußball sollte erst einmal nur dafür sorgen, dass ich meine Wohnung finanzieren kann, ohne bei McDonald's arbeiten zu müssen", sagt Hartmann. Sein Antrieb empfahl ihm auch dann noch nachdrücklich, das Studium fortzusetzen, als er plötzlich feststellte, dass dieses nicht viel mit der Schulmathematik gemein hatte, in der er immer gut gewesen war. Die ersten beiden Prüfungen in Linearer Algebra bestand er mit 50 Prozent, das ist eine vulgärmathematische Umschreibung und heißt so viel wie: haarscharf. Mit dem Studium ging es auch weiter, als Hartmann auf Rückfahrten von Auswärtsspielen des Halleschen FC zu lernen begann und ältere Spieler ihm deswegen Sprüche reindrückten. Folge- und Kollateralschaden: "Wann immer es eine Frage gab, die was mit Wissen außerhalb des Fußballs zu tun hatte, ging die sofort an mich. Und wenn es Botanik war."

Nun ist er also in der krassen Stadt Dresden, in der im übertragenen Sinne auch einiges seltsames und krasses Kraut blüht. Der Dresdner Spitzensport war lange zaghaft in Bezug auf die islamfeindliche Pegida-Bewegung, wie man annehmen darf eher aus wirtschaftlichen denn aus ideologischen Erwägungen. Marco Hartmann hat in dieser Zeit eine Weile lang die Position des defensiven Mittelfelds auch in den sozialen Netzwerken angenommen, durchaus mit sich hadernd: "Dort äußert sich jeder und jeder extrem, und du bist dann wieder der, der die Klappe hält und denkst dir deinen Teil." Zu diesem Teil gehörte aber auch die Überlegung, dass im Internet viele kommentierten, denen es recht zügig aus der Wut in die Tasten fließt, und "vielleicht sollten sich ja auch mal die mal mehr äußern, die über die Dinge noch zwei, drei Mal nachdenken".

"Es geht darum, jedem Menschen gegenüber respektvoll aufzutreten."

Vom Ergebnis der Landtagswahl in Sachsen-Anhalt, wo Hartmann lange lebte und wo die AfD vor einem Jahr fast ein Viertel der Stimmen holte, sei er enttäuscht gewesen, sagt Hartmann. Und doch bringe es nichts, Leute verbal zu schubsen, sie "auszugrenzen und als dumm und Nazis und Idioten hinzustellen". Es gehe darum, jedem Menschen gegenüber respektvoll aufzutreten - niemanden zu vergessen, wenn es um Gemeinschaft und Zukunft gehe.

Dafür einzutreten, das kann in besonderen Situationen beginnen. Als sich ein Teil der Anhängerschaft des Vereins nach dessen letztem Abstieg mal wieder krass im schlechten Sinne verhielt, kam die Polizei in die Kabine. Draußen, andere Straßenseite, da stünden etwa 15 Leute, schwarz vermummt, es sei wohl besser, man lasse sich nach Hause eskortieren. Marco Hartmann sagte: "Moment, ich bin mit dem Fahrrad hier und ich fahr damit bestimmt nicht hinter einem Polizeiauto her. Wer mit mir reden will, der soll es machen." Es kam dann doch niemand, nicht einmal jemand, der eine botanische Fachfrage gehabt hätte.

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