Es gibt Kunstwerke, die überdauern Jahrtausende, andere existieren nur kurze Zeit. In der Reitkunst gibt das Pferd die Zeit vor, in der es zusammen mit dem Menschen auf seinem Rücken so zu brillieren vermag, dass man nicht mehr von Sport, sondern von Kunst zu sprechen wagt. Und es war in der Tat hohe Reitkunst, die Jessica von Bredow-Werndl und Dalera jetzt bei den deutschen Meisterschaften in Balve im Sauerland zelebrierten.
Die Trakehner Stute ist 17 Jahre alt, nicht mehr jung, aber auch nicht zu alt, um sich in Paris bald erneut um olympisches Gold zu bemühen. Auch Bonfire von Anky van Grunsven und Gigolo von Isabell Werth straften ihr Alter Lügen, als sie in Sydney 2000 zu Gold und Silber tanzten. Beide waren 17 – wie Dalera heute. Der längste Teil ihrer Karriere liegt hinter ihr.
Das alles weiß natürlich auch Jessica von Bredow-Werndl, die in Balve souverän ihre beiden Titel im Grand Prix Special und in der Kür verteidigte. Ob Dalera das weiß, bleibt ihr Geheimnis; aber manchmal wirkte es nun so, als wolle sie noch einmal ihre ganze Kunst entfalten, damit dieses Bild in Erinnerung bleibt. So leicht flossen Reiterin und Pferd übers Viereck, in vollständiger Harmonie zu Klängen französischer Chansons ließen sie die schwierigsten Lektionen – Piaffen, Pirouetten und Galoppwechsel – kinderleicht aussehen.
Die beiden schienen sich über geheime Antennen zu verständigen, keine sichtbare Einwirkung störte den Ritt. „Das ist das beste Gefühl meines Lebens, das ich hier hatte“, sagte von Bredow-Werndl anschließend. „Dalera gibt immer alles, und immer noch mehr“. Da konnte sie schon kaum mehr sprechen, die Stimme versagte, die Tränen rollten. „Der Ritt war heute besser als in Tokio“, bestätigte Chefrichterin Katrina Wüst. Sie saß auch in Japan am Richtertisch.
Solche Tage sind selbst für Erfolgsverwöhnte selten. Auch in Balve leistete sich Dalera in der ersten Prüfung zwei Patzer, stieg in der Piaffe kurz auf beide Hinterbeine und vertat sich einmal bei den Galoppwechseln. Auch das genialste Pferd ist keine Maschine. Der Sieg war dennoch nicht gefährdet, wie in den vergangenen Jahren. Das Paar ist in 35 Prüfungen, seit Tokio 2021, ungeschlagen.
Jetzt gilt es, diese Form bis zum olympischen Auftritt im Park von Versailles zu konservieren. Wenn die Kollegen beim CHIO Aachen um die Startplätze für Paris kämpfen, wartet zu Hause in Aubenhausen im Kreis Rosenheim ein ausgeklügeltes Fitnessprogramm auf Dalera, dazu gehören Waldspaziergänge und stundenweise Weidegang. Sie muss nichts mehr beweisen, sie muss nur gesund bleiben. Das Paar sei für Paris gesetzt, verkündete der Vorsitzende des Dressurausschusses, Klaus Röser.
Es sei die absolut richtige Entscheidung, findet von Bredow-Werndl, und „für Dalera absolut perfekt.“ Denn das erspart ihrem Pferd drei schwere Prüfungen, kurz bevor es ins Trainingslager nach Paris verladen wird. Dabei hätte die Reiterin ihren Namen gerne noch mal auf der großen Siegertafel in Aachen gesehen, gibt sie zu, denn „wer weiß, ob mir das noch einmal gelingt“.
Auch mit von Bredow-Werndl im Team muss das fest eingeplante Gold erst erkämpft werden
Eine Dalera in der Siegerform von Balve wird in Paris schwer zu schlagen sein, aber die Konkurrenten, die meisten davon Reiterinnen, sind nicht zu unterschätzen. Die Briten haben in ihren Reihen die dreimalige Olympiasiegerin Charlotte Dujardin sowie Charlotte Fry, die vor zwei Jahren mit dem imposanten Rapphengst Glamourdale in Herning Weltmeisterin wurde. Jessica von Bredow-Werndl fehlte damals entschuldigt, sie brachte ihre Tochter Ella zur Welt. Von der Abwesenheit der Olympiasiegerin profitierten damals auch die Dänen, die vor den Deutschen Mannschaftsweltmeister wurden. Sie haben ebenfalls starke Reiter für Paris nominiert.
Selbst mit Bredow-Werndl im Team muss das Gold, fest eingeplant vom Deutschen Olympischen Sportbund (DOSB), erst erkämpft werden. In Aachen wird sich entscheiden, wer mitkämpfen darf. Als sicher gilt der Balve-Zweite, Frederic Wandres, mit den Pferden Duke of Britain und Bluetooth. Ingrid Klimke, Mannschaftsolympiasiegerin 2012 und 2016 in der Vielseitigkeit, hat mit Franziskus jetzt die Chance, es ihrem Vater Reiner Klimke gleichzutun und in zwei Disziplinen olympisch zu reiten. Newcomerin Katharina Hemmer auf Denoix und Isabell Werth auf Quantaz vervollständigen das Team in Aachen. Letzterer kehrte in Balve gelegentlich den Macho raus, tat nicht immer, was er sollte. Eine kleine Paris- Chance hat Werth, die siebenmalige Olympiasiegerin, mit der Stute Wendy, die sie erst seit ein paar Monaten im Stall hat und die in Balve wegen einer Verletzung fehlte.
Ob Olympia 2024 der letzte Wettkampf für Dalera sein wird, steht noch in den Sternen. Jessica von Bredow-Werndl weist vorzeitige Spekulationen zurück: „Das entscheiden wir später. Das bespreche ich in Paris – mit Dalera“.