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Leon Draisaitl:Er will die WM verpassen

Seit Jahren ist Leon Draisaitl der herausragende deutsche Eishockeyspieler, in der NHL bricht er Rekorde. Doch was ihn nun interessiert, sind nicht persönliche Auszeichnungen, sondern der Gewinn des Stanley Cups.

Von Jürgen Schmieder, Los Angeles

Die Lausbuben-Augen von Leon Draisaitl leuchten, denn es geht nun um dieses Thema, und dieses Thema ist bei all seiner Wut auch irgendwie amüsant. Er ist gerade vom Eis gekommen und steht in Eishockey-Unterwäsche in den Katakomben der Arena in Los Angeles; direkt hinter ihm sind zwei Mini-Stanley-Cups in Glasvitrinen ausgestellt als Erinnerungen an die Titel der LA Kings. Und darum geht es doch in der Profiliga NHL: den 130 Jahre alten Pokal, laut Weltverband IIHF die wichtigste Trophäe des Sports, noch vor WM und Olympia, und selbstverständlich auch vor allen individuellen Auszeichnungen wie zum Beispiel der Maurice Richard Trophy für den besten Torschützen einer Saison.

Genau deshalb lacht Draisaitl, weil er natürlich weiß, worauf der Reporter aus der Heimat hinauswill: Gegen die Calgary Flames hatte Draisaitl vor ein paar Wochen drei Tore erzielt, und ein Journalist wollte danach von ihm wissen, wie glücklich er denn sei über diesen Hattrick. Daraufhin mutierte Draisaitl zu einer jener aufbrausenden Figuren aus Quentin-Tarantino-Filmen und erklärte den Leuten, wie bescheuert das wäre, nach einer 5:9-Niederlage im sogenannten "Battle of Alberta" glücklich zu sein über die eigenen Treffer, mit denen er immerhin den ehemaligen Bundestrainer Marco Sturm als deutschen NHL-Rekordschützen ablöste.

"Das geht doch nicht", sagt Draisaitl nun grinsend, dass er kolossal genervt war von dieser Reduktion auf individuelle Statistiken, die sie im US-Sport leidenschaftlich betreiben und bei denen Europäer stets ein "aber" und den Hinweis auf die Platzierung der jeweiligen Mannschaft anfügen möchten. Zum Beispiel: Basketballspieler LeBron James hat in dieser Saison Kareem Abdul-Jabbar als erfolgreichsten NBA-Punktesammler überholt - mit den LA Lakers aber gerade die Playoffs verpasst. Football-Quarterback Aaron Rodgers hat kürzlich einen 50-Millionen-Dollar-pro-Jahr-Vertrag bei den Green Bay Packers unterschrieben - aber seit elf Jahren keinen Titel mehr gewonnen.

"Ich will jetzt nicht so tun, als wäre das nichts Besonderes und als würde mich das nicht freuen, dass ich 50 Tore geschossen habe", sagt Draisaitl: "Aber Eishockey ist nun mal ein Mannschaftssport. Wir haben 25 verschiedene Charaktere im Kader, die alle fürs Team ackern, die auf Kleinigkeiten achten, die so viele Dinge zu einer Partie beitragen, die die meisten gar nicht verstehen. Es ist da schwierig, stets über meine Bilanz zu reden, meine Tore - zumal wir das nun schon ein paar Jahre mitmachen."

Das Vorurteil über die Oilers: Ihre Angreifer schießen so viele Tore, dass sie gar nicht merken, wie viele sie kassieren

Wir, das sind Connor McDavid und er, die in der Scorer-Liste der NHL (Tore und Vorlagen zusammengerechnet) mit 108 und 102 Punkten auf den Plätzen eins und drei liegen, bei Toren allein liegt Draisaitl hinter Auston Matthews (58) auf Platz zwei mit derzeit 51 Treffern - wobei sein 51. Treffer am Dienstag beim 1:5 gegen Minnesota wieder so ein persönlicher Erfolg war, mit dem Draisaitl angesichts der Niederlage wenig anzufangen weiß.

Mit Verweis auf die vergangenen vier Spielzeiten, als McDavid und Draisaitl jeweils vortreffliche Statistiken auflegten, die Oilers aber entweder die Playoffs verpassten (2018, 2019) oder in der ersten Runde (2020, 2021) scheiterten, sagt Draisaitl: "Da schaffen Connor und ich jeweils 100 Punkte, und dann spielst du bei der WM in Dänemark, während es in der NHL um den Titel geht. Das ist irgendwann auch nicht mehr spaßig."

Bei Dirk Nowitzki war das ähnlich. Im Film "Der perfekte Wurf" ist zu sehen, wie sehr das an ihm nagte, einer der besten Basketballspieler der Geschichte zu sein - aber bis zum Titel 2011 eben einer ohne Meisterschaftsring. Das Vorurteil über die Oilers in den vergangenen Jahren: Ja, sie haben zwar zwei der besten Angreifer der Welt, aber sie sind so verzückt davon, wenn es vorne klingelt, dass sie gar nicht merken, wie oft es hinten einschlägt. Und: Lass die beiden ihre Tore in der regulären Saison erzielen - in den Playoffs, wo es ein bisschen härter zugehen darf in einer ohnehin knallharten Sportart, da attackieren wir die beiden am Rande der Legalität oder darüber hinaus.

In keiner Sportart trifft Uli Hoeneß' Weisheit, dass der Nikolaus nicht der Osterhase sei, so sehr zu wie in der NHL: In den vergangenen 20 Jahren haben nur zwei Vereine (Detroit Red Wings 2008, Chicago Blackhawks 2013) den Stanley Cup gewonnen, die nach der regulären Saison die beste Bilanz hatten - und nun wird es interessant: Ja, die Oilers taten sich in dieser Spielzeit nach einigen Experimenten in den ersten Monaten schwer. "Auch Connor und ich mussten lernen und uns verbessern", sagt Draisaitl. Stand jetzt hätten sie von allen 16 Playoff-Teilnehmern die meisten Gegentore (235) kassiert.

Aber: Nach der Niederlage in der Schlacht um Alberta haben sie sechs Mal nacheinander gewonnen. Erst am Samstag verloren sie wieder, nach Penaltyschießen gegen Colorado Avalanche, das derzeit nach Punkten beste NHL-Team; und dann am Dienstag gegen Minnesota, die derzeit formstärkste Mannschaft. Und da ist es wieder, das andere Vorurteil über die Oilers: Sie gewinnen gegen die, gegen die sie gewinnen müssen; aber wenn es darauf ankommt, gegen die wirklich tollen NHL-Teams, haben sie Probleme.

Ach was, heißt es aus Edmonton, kleine Ausrutscher, nicht mehr, und wer das Training betrachtet, sieht eine Mannschaft, die viel lacht und selten motzt. Den Stanley Cup gewinnt nicht, wer die meisten Punkte sammelt, sondern wer Mitte April eingespielt, gut drauf und vor allem gesund ist - deshalb bekam das Team kürzlich doch einen kleinen Schock, der in Edmonton mehr Aufregung verursachte als eine Niederlage.

Jeder hat nun Verletzungen, mit denen er umgehen muss

Draisaitl hatte sich im Spiel gegen die Anaheim Ducks verletzt und musste nach 354 Partien in Serie erstmals ein Spiel aussetzen. "Ich wusste erst gar nicht, dass ich verletzt war", sagt er, "es war die schlauere Entscheidung. Aber mal ehrlich: Jetzt hat jeder ein paar Verletzungen, mit denen er umgehen muss. Eishockey ist ein schneller und intensiver Sport, da beißt man nun mal auf die Zähne und ackert durch." Also: Vollgas, weil es in diesem Jahr wirklich klappen kann mit dem Titel?

"Bei allem Respekt vor den Teams, die wir davor hatten: Der Kader ist tiefer, wir sind eine bessere Mannschaft", sagt Draisaitl. Sie glauben wirklich daran, nicht nur wegen der Qualität auf dem Eis: "Wir verstehen uns super, wir gönnen uns gegenseitig Erfolg, das ist wichtig in einem Mannschaftssport. Wenn wir zusammenspielen, wie wir das gerade tun, dann sind wir sehr schwierig zu schlagen."

Und dann dürfte es auch schwierig werden mit einer WM-Teilnahme Draisaitls in diesem Jahr. Von 13. bis 29. Mai findet die Weltmeisterschaft diesmal statt, wie immer während der NHL-Playoffs. "Ich hoffe, nicht zur Verfügung zu stehen", sagt Draisaitl. Und die Lausbuben-Augen leuchten dabei noch ein bisschen heller.

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