Dortmund vor dem Pokalfinale:Wie Tuchel den BVB verändert hat

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  • Das Pokalfinale ist auch ein Test für die Dortmunder Taktik: Weniger Überfall, mehr Kontrolle - das neue Spielsystem kommt vielen Spielern entgegen.
  • Aber ist das noch Ruhrpottfußball?

Von Ulrich Hartmann, Dortmund

Beim letzten Bundesligaspiel der Saison saß ein Gutachter am Spielfeldrand im Dortmunder Stadion. Er betrachtete das Spiel von Borussia Dortmund sehr aufmerksam. Hinterher gab es eine Pressekonferenz, auf der er seine Ergebnisse präsentierte. "Borussia Dortmund hat in dieser Saison große Fußballkunst gezeigt", sagte der Sachverständige, Peter Stöger, der Trainer des 1. FC Köln.

Es ist nicht üblich, dass ein Trainer die gegnerische Mannschaft derart lobt, schon gar nicht für die Leistungen einer ganzen Saison. Aber der Österreicher Stöger, der mit seinem 1. FC Köln im gesicherten Mittelfeld gelandet ist und deshalb die Muße besaß, sich so demonstrativ über den Dortmunder Fußball zu äußern, fand es notwendig, abschließend einmal jene Mannschaft und jenen Trainer zu loben, die in dieser Saison und womöglich auch in den kommenden Spielzeiten den Kontakt zwischen dem FC Bayern München und dem Rest der Liga wahren. Borussia Dortmund hat 78 Punkte geholt und 82 Tore geschossen.

Solche Daten genügen normalerweise für den Meistertitel, aber weil die Dominanz des FC Bayern München noch größer gewesen ist, muss sich der Ruhrpottklub mit dem zweiten Platz begnügen. Sein Vorsprung vor dem Dritten Bayer Leverkusen beträgt 18 Punkte. Vom Dritten Leverkusen bis zum Drittletzten Eintracht Frankfurt sind es 24 Punkte. Diese Tabelle ist wie ein Zerrspiegel aus dem Spiegelkabinett, aber der BVB-Trainer Thomas Tuchel hasst es, wenn er in den Spiegel schaut und nicht klar sieht. Die zehn Punkte Rückstand zum FC Bayern nerven ihn.

Vor allem Henrikh Mkhitaryan ist aufgeblüht

Tuchel ist ein Mann der klaren Gedanken und der klaren Worte. Als er 2015 nach einem Sabbatical vom FSV Mainz 05 zu Borussia Dortmund wechselte und den Posten von Jürgen Klopp übernahm, rätselte die Branche, ob Tuchel Klopp ersetzen könne, ob er einen ähnlich attraktiven Fußball spielen lasse und ob er bei den Fans eine vergleichbar kultische Rolle würde einnehmen können.

Man kann mit der letzten Frage beginnen: Tuchel ist durchaus zum Sympathieträger geworden, aber er hat nicht das extrovertierte Charisma eines Jürgen Klopp. Das benötigt er aber auch gar nicht, denn Tuchel hat das Dortmunder Publikum mit attraktivem, erfolgreichem Fußball für sich gewinnen können. Als Klopp mit Dortmund 2011 erstmals Meister wurde, holte die Mannschaft 75 Punkte - weniger als jetzt Tuchel in seiner ersten BVB-Saison. Tuchel hat nur das Pech, dass die Münchner heute viel stärker sind als damals.

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Tuchels Erfolgsrezept ist ein System, das den Stärken vieler Dortmunder Spieler förderlicher ist als unter Klopp. Bei Klopps vor allem auf aggressivem Pressing und schnellem Umschalten basierenden Spiel kam Henrikh Mkhitaryan beispielsweise nicht richtig zur Geltung. Weil zwischen Balleroberung und Torabschluss nur wenige Sekunden liegen sollten, agierte Mkhitaryan oft überhastet und konnte sich nicht die Zeit nehmen, mit dem Ball etwas Sinnvolles anzufangen, seine technische Qualität kreativ umzusetzen.

Mkhitaryan, ein 27-jähriger Armenier, der vor drei Jahren zum BVB gekommen ist, blüht unter Tuchel nun auf und hat sich in der vergangenen Saison neben Innenverteidiger Mats Hummels und Stürmer Pierre-Emerick Aubameyang zum wichtigsten Dortmunder Spieler entwickelt. Mkhitaryan hat elf Tore selbst geschossen und 20 vorbereitet. In der Topliste der Vorbereiter ist er mit großem Abstand Erster vor Bayern Münchens Douglas Costa (14) und Werder Bremens Zlatko Junuzovic (12).

Mkhitaryan, aber auch Shinji Kagawa (9 Torvorlagen) und Gonzalo Castro (7) profitieren im Mittelfeld von der größten Veränderung im Dortmunder Spiel unter Tuchel: vom vielen Ballbesitz. 54 Prozent Ballbesitz hatte Dortmund im saisonalen Durchschnitt in der vorletzten Saison unter Klopp, und 55 Prozent in der letzten Saison unter Klopp. Das war ziemlich wenig für eine der besten Mannschaften der Liga. Aber auf Ballbesitz und Ballzirkulation kam es Klopp eben gar nicht an. Er suchte bloß Mittel, um nach Ballgewinnen möglichst schnell vor das gegnerische Tor zu gelangen.

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Tuchel hingegen sucht die stete Kontrolle über das Spielgerät. 64 Prozent Ballbesitz hatte Dortmund im saisonalen Durchschnitt in dieser Saison. Die Quote der erfolgreichen Pässe hat sich dadurch von zuletzt 77 Prozent unter Klopp auf 85 Prozent unter Tuchel verbessert. Mats Hummels und Julian Weigl haben mit durchschnittlichen 79 und 78 die zweit- und drittmeisten erfolgreichen Pässe sämtlicher Bundesligaspieler in der vergangenen Saison gespielt. Nur David Alaba vom FC Bayern kam mit 82 auf noch mehr zielsicher zugestellte Bälle.

Fans, für die die sogenannten Tugenden des Ruhrpottfußballs (Kampf und Laufbereitschaft) am wichtigsten sind, könnten womöglich davon enttäuscht sein, dass die Dortmunder unter Tuchel weniger laufen als unter Klopp. Sie sind in dieser Saison nämlich bloß 113 Kilometer pro Partie gelaufen, das sind 5,4 Kilometer weniger als in der vergangenen Spielzeit und 6,0 Kilometer weniger als in der vorvergangenen. Allerdings ist dieser statistische Absturz nur logisch und völlig harmlos, weil eine Mannschaft, die länger den Ball kontrolliert und zirkulieren lässt, einfach weniger läuft als eine Mannschaft die beim Pressing viel verschiebt, und in der sich alle zehn Feldspieler läuferisch stets gen gegnerischer Ballposition orientieren.

Chancenverwertung lag bei 20 Prozent

Viel bedeutsamer und beeindruckender ist da schon die Effizienz der Dortmunder vor dem gegnerischen Tor. Denn die Stürmer - darunter Aubameyang (25 Tore), Marco Reus (12), Mkhitaryan (11), Kagawa und Adrian Ramos (je 9) - haben mit 82 Treffern nicht nur zwei Tore mehr geschossen als die Münchner und mit 73 aus dem Spiel heraus einen weiteren Liga-Topwert erzielt, sondern sie haben dafür mit 213 Torschüssen auch 50 Versuche weniger benötigt als die Bayern. Die Dortmunder Chancenverwertung lag bei 20 Prozent und damit an der Spitze der Bundesliga. Auch dies ist ein Indiz dafür, dass die Ballkontrolle und das weniger überhastete Spiel unter Tuchel für diese Mannschaft geeigneter ist.

"Große Fußballkunst", hat der Kölner Coach Stöger das alles also genannt am vergangenen Samstag, aber Tuchels Antwort ("Vielen Dank für die Blumen!") klang mitnichten stolz und glücklich. Tuchel hatte sich zuvor nämlich über das maue 2:2-Unentschieden aufgeregt und darüber, dass seine Spieler in keiner der auf das Spiel bezogenen Statistiken an die Topwerte dieser Saison herangekommen sind. Tuchel beklagte einen "Form- und Haltungsverlust" seiner Mannschaft in den letzten beiden Bundesligaspielen beim 0:1 in Frankfurt und dem 2:2 gegen Köln.

Tuchel fürchtet, dass seine Mannschaft dadurch ihren spielerischen Flow verloren haben könnte und ihn beim Pokalfinale am Samstag in Berlin womöglich nicht mehr rechtzeitig zurückgewinnt. "Ich habe große Sorgen, dass wir unsere Form nicht mehr finden", sagt er - aber das klingt ein bisschen übertrieben. Tuchel will natürlich aufrütteln, Tuchel will große Kunst sehen, Tuchel will gewinnen. Wenn er mit 78 Punkten und all den statistischen Referenzen in seiner ersten Saison bei Borussia Dortmund schon nicht Meister geworden ist, will er mit dem DFB-Pokal wenigstens einen mehr als respektablen Trostpreis gewinnen.

© SZ vom 20.05.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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