Dortmund unter Tuchel:Unheimliche Lust am Spiel

Borussia Dortmund - Borussia Mönchengladbach

Grund zu jubeln: Pierre-Emerick Aubameyang (links) und Henrikh Mkhitaryan

(Foto: dpa)
  • Borussia zeigt gegen Gladbach eine erweiterte Strategie.
  • Der neue Trainer Thomas Tuchel legt Wert auf den Hinweis, dass zumindest die Basis dazu noch von seinem Vorgänger gelegt wurde.
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Von Freddie Röckenhaus, Dortmund

Es war so ein Moment, in dem das Spielfeld ein paar Zentimeter abzuheben scheint, in dem alles schwebt, als würde das Stadion geliftet von den Schallwellen der Begeisterung. Pierre-Emerick Aubameyang und Marco Reus gingen vom Feld, der Gegner war geschlagen - und der Trainer gönnte seinen beiden schrecklichen Zwillingen ("Terrible Twins") diesen besonderen Abgang, eine Viertelstunde vor Schluss. "Als Marco und ich zusammen vom Platz gingen, hatte ich Gänsehaut", erzählte Aubameyang, "von so einer Atmosphäre träumst du als Kind, als kleiner Fußballer. Es war unglaublich."

Das 4:0 von Borussia Dortmund gegen Borussia Mönchengladbach war eigentlich nur ein erstes Bundesligaspiel, aber es offenbarte so viel Spielfreude und Euphorie, dass sogar Thomas Tuchel, der neue Chefcoach, ins Schwelgen geriet. 4:0 gegen den "Rückrundenmeister" der vergangenen Saison, ein grandios herausgespielter Sieg, von dem die meisten Beobachter meinten, dass er höher hätte ausfallen können. Tuchel fand, dass er "froh" gewesen sei zu sehen, "mit welcher Ausstrahlung und Disziplin" seine Mannschaft gespielt habe.

Als die Adrenalinpegel wieder zu sinken begannen, kamen die wahren Fragen auf. Bis auf den neuen Torwart Roman Bürki (kam vom SC Freiburg), der in der Bundesliga vorerst die Nummer Eins sein soll, und den erst 19-jährigen Julian Weigl (kam vom TSV 1860 München) auf der Sechser-Position, ließ Tuchel nominell die selbe Elf spielen, die unter seinem Vorgänger Jürgen Klopp eine Zeitlang in der Abstiegszone unterwegs war. Die selben Spieler also -, aber ein himmelweiter Unterschied. Marcel Schmelzer, der 2014 die WM in Brasilien durch Verletzung ebenso verpasste wie seine prominenteren Kollegen Marco Reus und Ilkay Gündogan, strahlte übers hager gewordene Gesicht: "Es macht einfach unheimlichen Spaß, so zu spielen." Und Mats Hummels, mit ebenso schmal gewordenen Zügen, fand: "Die Idee fürs Spiel, die wir haben, gefällt uns allen."

Wie Schmelzer wirken praktisch alle Dortmunder derzeit so agil, wie man sie nicht einmal in besten Zeiten unter Jürgen Klopp erlebt hat. Mats Hummels und Ilkay Gündogan würden vermutlich in eine niedrigere Gewichtsklasse eingestuft, wenn sie Boxer und nicht Fußballer wären. Selten hat man beide so scharf und flink auf den Beinen erlebt. Anderen scheinen eher mentale Gewichte von der Seele gefallen zu sein: Die schon immer hageren Offensivkräfte Marco Reus, Henrikh Mkhitaryan und Shinji Kagawa scheinen aus Tuchels Fußball-Philosophie vor allem eine 3.0-Version von Franz Beckenbauers legendärem Credo "Geht's raus und spielt Fußball" mitgenommen zu haben. Drehungen, Dribblings, alles in Hochgeschwindigkeit. "Dieses Tempo war zu hoch für uns", meinte Gladbachs Trainer Lucien Favre.

In der Europa League Weidenfeller im Tor

Dortmund reloaded dürfte vorerst als Parole über dem spektakulären Comeback des BVB stehen. 12:0-Tore aus bisher vier Pflichtspielen. Ein bisschen erinnerte das an die Vollgas-Tage der Klopp-Ära, als der Altersschnitt des heute 26- oder 27-jährigen Personals erst 21 oder 22 war. Auf den zweiten Blick aber war eine neue Reife zu beobachten, die sich in den wenigen Wochen unter Tuchel herauskristallisiert.

Tuchel selbst hat im Gegenzug schon häufig sein Staunen über die enorme Klasse im BVB-Kader beschrieben. Mit Mkhitaryan, Reus, Gündogan oder Hummels fängt man offenbar auf enorm hohem Niveau mit der Feinarbeit an. Der Plan, das aktive Spiel durch mehr Ballbesitz möglichst tief in die gegnerische Hälfte zu schieben, entfacht bei den Profis eine neue Spielfreude. Schmelzer zum Beispiel, in der Klopp-Ära anfangs ähnlich offensiv unterwegs wie jetzt, dann aber immer mehr als Arbeitsbiene vergattert, sagt klar: "Wenn ich so hoch stehen kann im Raum, dann habe ich häufiger die Chance, zu flanken."

Ausgerechnet unter dem als akribisch bekannten Tuchel scheint es um die neue Lust am Spiel zu gehen. Beim 2:0 servierte Schmelzer die Vorlage zu Aubameyangs Kopfball. Beim dritten Treffer sprintete der Franzose, der für Gabun, das Heimatland seines Vaters spielt, unaufhaltsam davon und bediente Mkhitaryan so grandios, dass sich die Dortmunder unter den 81 357 Zuschauern in Raserei steigerten.

Dass jedes Lob über den Start unter Tuchel allzu leicht als Kritik an Vorgänger Klopp interpretiert wird, bereitet nicht nur Dortmunds neuem Trainer Unbehagen: "Wir könnten hier nicht so gewinnen, wenn Jürgen vorher nur Mist gemacht hätte", wollte Tuchel eine Lanze brechen für den langjährigen BVB-Chef. Wenn es nicht die Basis gäbe, die Klopp gelegt hat, bekäme man nicht auf so hohem Niveau eine Wende hin. Das stimmt - und stimmt auch nicht. Und Tuchel, dem es wichtig ist, die guten Manieren und den Sportsgeist seiner Spieler in den Mittelpunkt zu stellen, will auch höflich sein. Klopp hätte - nach einem Jahr der Pause und des Ideentankens - vielleicht ähnlich neu angreifen können, wie Tuchel es vorführt. Andererseits greift die Ansprache des neuen Trainer offenbar anders. Pointen am laufenden Meter sind das eine. Tuchel aber gewinnt gerade mit seinem Kontrastprogramm, mit Ernst und aufregender Fachlichkeit. Und mit einem tiefen Verständnis für die menschliche Situation jedes Spielers.

Wie Tuchel etwa den Wechsel von Roman Weidenfeller auf Roman Bürki im Tor moderiert, wirft ein Licht auf den neuen Ton. Tuchel garantiert dem WM-Torwart von 2014 "Pflichtspieleinsätze", lobt dessen mannschaftsdienliche Art und gesteht zwischen den Zeilen elegant ein, die eigenen Vorurteile gegen Dortmunds oft knarzig wirkenden Langzeit-Torwart revidiert zu haben. Am Donnerstag, in der Europa League gegen Odds BK/Norwegen, wird Weidenfeller spielen. Auch das gehört zum menschelnden Repertoire des Neuen.

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