Dopingskandal:"Meine Arbeit ist Teamarzt, nicht Dopingkommissar"

Lesezeit: 14 Min.

Elf Jahre lang stand er voller Bewunderung und mit wenigen Fragen Jan Ullrich zur Seite - der Mediziner Lothar Heinrich über Betrug im Radsport.

Thomas Kistner und Andreas Burkert

SZ: Herr Doktor Heinrich, wir wollen über Glaubwürdigkeit reden. Bei Ihnen wurden während einer Giro-Razzia einmal Koffeintabletten gefunden?

Heinrich und Ullrich bei der Arbeit. (Foto: Foto: dpa)

Heinrich: Richtig. 2001 wurde in meiner Toilettentasche eine Packung Koffeintabletten von der italienischen Polizei gefunden und beschlagnahmt. Darauf wurde ein Verfahren eröffnet, das wieder eingestellt wurde, weil Koffeintabletten nicht verboten waren und sind. Daher auch von mir zum Thema Glaubwürdigkeit: Anders als Sie in einem Interview mit Herrn Danckert behauptet haben, waren die Tabletten nicht verboten.

SZ: Koffein stand auf der Verbotsliste damals, deshalb machte die Sache ja viel Wirbel. Es kam auf den Grenzwert an, so war die Regelung. Gehören Koffeintabletten noch zu Ihrer Standardausrüstung?

Heinrich: Nein. Davon können Sie ausgehen.

SZ: Zufällig wurde Jan Ullrich im Jahr darauf mit einem Amphetaminbefund auffällig. Er will die Substanz von einem ihm Unbekannten in der Disco erhalten haben. Muss nicht Irritation entstehen, wenn sich solche Zufälle häufen?

Heinrich: Die Fälle sind nicht zu vergleichen. Amphetamin unterliegt dem Betäubungsmittelgesetz. Das eine ist eine auf gesonderten Rezepten verschreibungspflichtige Substanz und steht auf der Dopingliste, Koffein ist frei verkäuflich und in vielen Genussmitteln enthalten.

SZ: Irritiert hat uns was anderes: Die Zufälligkeit, dass immer etwas gefunden wurde, wenn es jemand das einzige Mal genommen oder bei sich hatte. Haben Sie Ullrich zu der Disco-Geschichte befragt?

Heinrich: Natürlich, er hat uns ja über den positiven Befund benachrichtigt. Ich war erschreckt. Er war sehr erschüttert, dass überhaupt etwas gefunden wurde. Er konnte es sich da nicht erklären - so hat er es mir auf jeden Fall gesagt.

SZ: Aber er hat das Zeug genommen. Muss nicht gerade, wenn er Amphetamin nicht kennt, die Wirkung sofort und heftig gewesen sein? Dazu das nächtliche Erlebnis, Stunden vor der Kontrolle. Wieso konnte er den Befund da nicht erklären?

Heinrich: Ich habe mit ihm nicht über die Wirkung gesprochen. Die Umstände waren für mich das Erschreckende. Er war damals ja zur Reha in Bad Wiessee.

SZ: Haben Sie ihm das abgenommen?

Heinrich: Ich hatte mit Jan ein gutes Verhältnis, ich hatte keinen Grund, ihm nicht zu glauben. Ich habe gedacht, es sei ähnlich wie bei seiner Episode mit dem Autounfall und der Fahrerflucht, dass er aus seiner für ihn frustrierenden Rekonvaleszenz heraus musste und deshalb so eine Kurzschlusstat begangen hat.

SZ: Glauben Sie ihm das heute noch?

Heinrich: Dass es ein Einzelfall war, warum nicht? Trainingstests sind nicht so selten. Dass zufällig am Folgetag eine Kontrolle war, heißt nicht, dass er davor zehn Tage etwas eingenommen hat und keiner hat es gemerkt.

SZ: Musste nicht spätestens da für Sie als betreuender Arzt klar sein, dass Ullrich verführbar ist? Wer in der Disco Drogen schluckt von Wildfremden, ist doch zu viel Unfug fähig. Zumal, wenn er sich in einer Hochdopersportart bewegt?

Heinrich: Ich sehe den Profiradsport nicht als Hochdopersportart. Ich sehe den Sport an sich als anfällig für Doping. In einem extremen Ausdauersport profitiert ein Radsportler natürlich vom Doping, ob Blutdoping oder Epo. Sicher mehr als Fußballer oder Handballer. So gesehen ist Radsport als Hochleistungssport anfällig für Doping. Eine Hochdopersportart ist es aber nicht.

SZ: Das irritiert uns. Wir erklären den Begriff Hochdopersport: Seit 1960 wurden nur drei Toursieger nie mit Doping oder konkreten Vorwürfen konfrontiert. Bei der Tour '98 wurden säckeweise verbotene Mittel bei diversen Rennställen konfisziert, es gab 60 strafrechtliche Verurteilungen danach. Pantanis Drogentod, ergiebige Razzien, das Fuentes-Netzwerk mit Ullrich und 57 weiteren Fahrern - was macht Sie glauben, dass dies keine im Kern verseuchte Sportart ist?

Heinrich: Ich kann nur beurteilen, was ich selber kenne. Ich möchte mir kein Urteil darüber erlauben, was in anderen Mannschaften oder Ländern passiert.

SZ: Aber das sind Fakten. Und Ihre Schützlinge stehen in Konkurrenz mit all diesen anderen Mannschaften.

Heinrich: Trotzdem möchte ich nur über die Leute reden, die ich kenne. Und da kann ich nicht von einem Hochdopersport ausgehen, da sehe ich Sportler, die extrem hart trainieren und viel von ihrer Zeit dafür geben, leistungsfähig zu sein. Das muss man auch sehen: Radsport ist eine der härtesten Sportarten, mit etwa hundert Renntagen im Jahr auch eine der wettkampfintensivsten. Dass da die Gefahr besteht, auf unerlaubte Mittel zurückzugreifen, wenn man gerade das nicht machen will - optimal trainieren, sein Leben ganz dem Sport opfern - ja, die Gefahr besteht.

SZ: Klingt originell: Doping als Phänomen für Trainingsfaule. Sagen Sie uns, macht es Sie nicht rasend zu sehen, wie sich Ihre Leute abquälen, während die anderen auf Teufel komm raus dopen?

Heinrich: Deswegen muss man wieder gleiche Verhältnisse herstellen. Deswegen haben wir uns im Team gefragt, wie können wir uns die Sicherheit verschaffen, dass bei uns so etwas nicht passiert? Der Sponsor hat ein großes Interesse, ich habe auch ein großes persönliches Interesse daran. Das ist ja der entscheidende Faktor für den Arzt: Dass meine Sportler gesund sind und bleiben. Ich bin nicht der Antidoping-Fachmann, ich bin für den Schwerpunkt Gesundheit zuständig. Also arbeiten wir daran, ein Programm aufzulegen, das den Radverband voranbringt. Weil die Glaubwürdigkeit der Sportart extrem gelitten hat - und auch die Glaubwürdigkeit der beteiligten Personen. Da schließe ich mich mit ein.

SZ: Heißt das, Sie waren lange Zeit viel zu blauäugig?

Heinrich: Ich denke, es ist normal, dass man mit einem gewissen Idealismus an die Sache herangeht. Und wenn eine Sache wirklich lang gut funktioniert, wenn man den Eindruck hat, man kann sich auf die Leute verlassen, ist das vielleicht blauäugig - oder nur normaler Idealismus. Ich habe mich darauf verlassen, dass zum Beispiel die Antidoping-tests gut funktionieren. Ich weiß, dass es Substanzen gibt, die man nicht nachweisen kann. Aber viele sind nachweisbar.

SZ: Einspruch. Jeder Sportarzt weiß, dass die Dopingtests nicht effektiv sein können, weil viele hochwirksame Mittel gar nicht gefunden werden können. Und zwar genau die Stoffe, die nun Ullrich zugeordnet werden: Eigenblutdoping, IGF-1, Wachstumshormone HGH und so weiter. Das sind ja eben auch die Mittel, die man bei den Razzien immer findet.

Heinrich: Aber Jan wurde zwischen Giro und Tour einer Blutkontrolle unterzogen, man hat kein HGH gefunden. Er wurde an drei Tagen in Folge durch unabhängige Trainingskontrollen getestet.

SZ: Kennen Sie die Werte?

Heinrich: Nein. Ich weiß nicht, ob sie an irgendwelchen Grenzwerten liegen, das wird mir nicht mitgeteilt. Aber es ist für mich als Arzt mit einem limitierten Equipment, gerade wenn ich unterwegs bin, schwer zu beurteilen, ist einer gedopt oder nicht. Ich lebe davon, dass ich dem Sportler vertraue.

SZ: Hätte sich dieses Vertrauen nicht längst in Misstrauen umkehren müssen?

Heinrich: Nach 1998 hat das Team Telekom ja mehr unabhängige Trainingskontrollen gefordert und bezahlt. Um Sicherheit zu haben, es wird nicht gedopt.

SZ: Wir drehen uns flott im Kreis. Die Tests finden kaum Stoffe, und wenn sich ein Team selbst kontrolliert, lässt sich das auch als Dopingfall-Verhinderungstest verstehen. Hätten nicht Sie als T-Mobile-Arzt protestieren müssen, dass Fahrer mit faktisch als Doper geouteten Ärzten wie Ferrari und Cecchini arbeiten?

Heinrich: Es ist doch keiner unserer Sportler, während er im T-Mobile-Team war, dorthin gewechselt. Die Sportler hatten zuvor schon mit dem Trainer zusammengearbeitet. Das muss man per Vertrag lösen. Ich kann zwar eine Empfehlung herausgeben, aber kein Sportler muss sich daran halten.

SZ: Seltsam, wenn solche Warnungen des Teamarztes nichts gelten. Schlagen Sie als Mediziner nicht die Hände über dem Kopf zusammen, wenn Ihre Fahrer mit solchen Leuten kooperieren?

Heinrich: Die Situation war ja eine andere damals, als mir die Sportler nach Vertragsunterschrift erzählten: Ich arbeite mit Ferrari oder Cecchini zusammen. Ich fragte, warum? Die konnten mir das detailliert erklären und Trainingspläne zeigen - und die Pläne sind: gut. Keine Frage, die Trainingspläne sind sehr gut.

SZ: Wir reden über Glaubwürdigkeit. Und dass Fahrer nicht sagen: Außerdem dopen wir, um das leisten zu können - ist doch klar. Müssten Sie als Arzt, egal wie die Pläne ausschauen, da nicht ,,Stopp!'' rufen? Ferrari ist faktisch ein Fachdoper.

Heinrich: Woran machen Sie das fest?

SZ: Klären wir auf, wo es nicht nötig sein sollte: Ferrari ist des schweren Sportbetrugs und Arzneimissbrauchs schuldig gesprochen und zu einem Jahr Gefängnis auf Bewährung und zu einer Geldstrafe verdonnert worden. 2006 wurde das, wie in Italien üblich, wegen Verjährung aufgehoben. Der Winkelzug ändert nichts an den Fakten und Aussagen der Gedopten.

Heinrich: Mit Michael Rogers habe ich über Ferrari geredet. Er hat mir gesagt: ,Ich kann unterscheiden zwischen Medikamenten und Training, und ich nehme keine Medikamente. Er hat mir auch nie welche angeboten.' Sagen Sie mir bitte, was ich da machen soll! Soll ich zurücktreten und sagen, Rogers kriegt seine Trainingspläne von Ferrari, deshalb beende ich meine Tätigkeit im Team? Im Nachhinein weiß ich aber, dass ich es so nicht mehr akzeptieren werde, und lege Wert darauf, dass es in den Verträgen so mit drinsteht. Denn der Sportler kann mir ja viel erzählen. Er könnte auch leugnen, mit Ferrari zusammenzuarbeiten - davon gibt es jede Menge in anderen Teams, Personen, die es bewusst nicht sagen. Ich bin der Mannschaftsarzt und Ansprechpartner, nicht Richter. Zukünftig lege ich mehr Misstrauen an den Tag. Ich weiß, dass Fehler gemacht worden sind. Vielleicht hatte ich auch zu viel Vertrauen in die Fahrer. Das können aber nur die beurteilen, die dieses Vertrauen missbraucht haben. Beweise dafür gibt es offenkundig wenig bis keine. Und klar ist auch: Sportler, die von ihren Betreuern ständig unter Generalverdacht gestellt werden, werden erst recht nicht vertrauensvoll mit ihnen zusammenarbeiten.

SZ: Was war für Sie die Initialzündung? Wann haben Sie erkannt, dass Sie selbst zu blauäugig waren?

Heinrich: Es war schon die Erkenntnis, dass Jan darin verwickelt sein könnte. Ich will sicherstellen, dass mir im nächsten Jahr keiner sagen kann, du als Teamarzt hättest es sehen müssen.

SZ: Hätten Sie nicht?

Heinrich: Wie gesagt, die meisten der Mittel, um die es geht, sind in keiner Dopingkontrolle nachweisbar.

SZ: Das totale Ohnmachtsgefühl? Sie wissen, die Tests bringen nichts und Sie selbst können es nicht, weil Ihr Labor nicht ausgestattet ist oder es zu teuer ist? Heinrich: Ohnmacht - oder Vertrauen. Ein Arzt-Patienten-Verhältnis kennzeichnet Vertrauen.

SZ: Aber hier doch nur vom Patienten zum Arzt?

Heinrich: Ich als Arzt vertraue auch dem Patienten.

SZ: In einem so schwer belasteten Profisportmilieu?

Heinrich: Dass dem Sportler dran gelegen ist, mir alles Wichtige zu sagen, davon muss ich ausgehen. Auch bei Normalpatienten gibt es ein paar Rentenschwindler und Versicherungsbetrüger.

SZ: Aber geht es im Profimilieu nicht vorwiegend um Versicherungsbetrüger?

Heinrich: Nein, darum geht es nicht! Ohne Zweifel gibt es Sportler, die betrügen. Aber ich kann und darf mir das Vertrauensverhältnis zu den Sportlern, die ich betreue, nicht nehmen lassen. Das würde mir nicht nur den Spaß an der Arbeit nehmen, sondern mich in ihr sogar einschränken. Aber was ich kann: Ich will mir und dem Team Sicherheit geben. Wir haben schon während der Tour überlegt, was wir machen, wen wir ins Boot holen können. Ich habe auch schon Antworten bekommen, von Experten, die sehr restriktiv vorgehen würden. Ich habe der neuen Teamleitung gesagt: So sind die Bedingungen, dass wir in Freiburg weiterhin die medizinische Betreuung übernehmen, oder wir sind raus. Weil natürlich unsere Glaubwürdigkeit auf dem Spiel steht. Nicht nur die der Sportler, auch die persönliche.

SZ: Uns bleiben Zweifel. Warum bringt Sie der Fall Ullrich denn so radikal zum Umdenken, wenn Sie zugleich noch so unentschlossen sind in der Kernfrage, ob er gedopt hat? Warum macht Sie seine verhaltene Reaktion nicht stutzig? Und raten Sie ihm, da ja sein Blut bei Fuentes gefunden wurde, zu einer DNS-Analyse? Ein Härchen von ihm, und alle Zweifel wären beseitigt, und der Weg frei, alle Angreifer zu verklagen?

Heinrich: Wir haben in diesem Fall viele Indizien. Auch wurde ihm dazu geraten, einen Test zu machen. Aber mit verbalen Verurteilungen muss man sehr vorsichtig sein. Und es läuft hier auch ein juristisches Verfahren.

SZ: Sie kennen ihn. Uns geht es hier nur um Ihre persönliche Position.

Heinrich: Ich kann nur sagen, wie mich Leute ansprechen, hier und zu Hause: Die wenigsten sind verärgert, die meisten sind einfach nur traurig. Traurig darüber, dass das, was sie die letzten Jahre sahen und dieses Jahr gern gesehen hätten, nicht stattfand. Und unbestritten hat Jan immer dann am meisten Größe gezeigt, wenn er verloren hat.

SZ: Meinen Sie nicht, dass die Leute deshalb traurig sind, weil sie in diesem Jahr erkennen mussten, dass sie all die früheren Jahre betrogen wurden?

Heinrich: Es gibt natürlich Unterschiede. Ich denke, es fehlt am meisten diese menschliche, nicht maschinenhafte Identifikationsfigur. Dieses Verlierenkönnen gegen Lance Armstrong, mit Größe.

SZ: Wäre das Größe, ohne Murren eine Niederlage hinzunehmen, wenn man selbst betrogen hat? Es ging ja stets gegen Lance Armstrong - wäre es nicht einfach, sich unter Betrügern zu arrangieren?

Heinrich: Mag sein, dass Sie recht haben und einige sehr enttäuscht darüber sind, dass sich jetzt vielleicht raus-stellt, dass er gedopt hat.

SZ: In Ihrem persönlichen Empfinden ist Ullrich kein Doper?

Heinrich: Für mich persönlich ist Jan als Mensch wichtig. Und als Mensch bin ich wirklich traurig für ihn.

SZ: Das müssen Sie uns mal erklären. Es gibt so eindeutige Fakten, dass sie zu Ullrichs Rauswurf bei T-Mobile führten. Und es gibt keine Gegenwehr von ihm.

Heinrich: Ja, richtig, das ist der Dopingfall Jan Ullrich...

SZ: ...wieso sind Sie nicht in der Lage zu sagen: Ich bin enttäuscht, dass Jan mich betrogen hat?

Heinrich: Natürlich bin ich enttäuscht.

SZ: Sie sehen eine Restmöglichkeit, dass Ullrich Opfer einer Intrige ist?

Heinrich: Ich halte von Legendenbildungen wenig. Über die bisher vorliegenden Fakten bin ich enttäuscht und auch traurig. Alles andere wird ermittelt.

SZ: Uns geht es ums Thema Glaubwürdigkeit. Also in dem Fall darum, ob Sie als Arzt und langjähriger Betreuer von Ullrich ihn für einen Doper halten?

Heinrich: Vielleicht möchte ich mir einfach noch ein klein wenig Hoffnung bewahren. Mag sein, dass auch dies von Ihnen als Naivität bezeichnet wird.

SZ: Dürfen Sie sich diese Naivität noch leisten als Arzt eines schwer belasteten Athleten, in einem bis in die Grundfesten erschütterten Berufssport?

Heinrich: Vielleicht ist der Grund, dass ich seit 1995 mit den Radfahrern zusammenarbeite, und seit 1995 ist Jan Profi. Und Jan ist für mich nicht nur Sportler, sondern auch ein guter Mensch. Mit allen Fehlern und allen Vorzügen. Deshalb will ich es vielleicht noch nicht an mich ranlassen. Vielleicht ist es ein Verdrängungsprozess, mag sein. Das lasse ich mir dann auch gern vorwerfen. Er wird höchstwahrscheinlich gesperrt und ich werde mit ihm als Sportler nie mehr zu tun haben. Was für mich viel wichtiger ist als die Retrospektive: Wie passiert mir so eine persönliche Enttäuschung nicht mehr? Kann man so etwas überhaupt ausschließen? Und wenn jemand einen Fehler begangen hat, muss man ihn dann in aller Öffentlichkeit verteufeln?

SZ: Auch das irritiert uns. Ullrich wird kein Fehler vorgeworfen, sondern jahrelanges Doping auf perfide Art. Er hat viele Millionen verdient, weil ihn die Menschen für diese Leistungen achteten. Braucht nicht gerade der Arzt, der es künftig besser und glaubwürdiger machen will, die nüchterne Analyse von all dem, was er vorher falsch gemacht hat?

Heinrich: Richtig, aber mit einer klaren Intention, was man besser machen kann. Und auch deshalb nutzt es nichts, wenn da zu viel Emotionalität reinkommt. Ich halte wenig davon, in der Vergangenheit zu leben. Jetzt zwölf Jahre zu hinterfragen, ob ich hintergangen worden bin oder nicht, bringt mich also nicht weiter. Entscheidend ist, dass es nicht mehr passieren kann. Wenn ich mich als Teil des Kontrollsystems sehe, dann habe ich auch versagt. Nur: Meine Arbeit ist Teamarzt, nicht Dopingkommissar. Dafür gibt es unabhängige externe Tests. Und genau die wollen wir jetzt verstärken. Wir wollen die höchstmögliche Sicherheit, dass nur gesunde, ungedopte Fahrer am Start sind. Und wenn doch einer positiv ist, will ich mir nicht anhören: du hättest es wissen müssen.

SZ: Wo steht der Sportarzt: Voll beim Athleten - oder bei seiner ethischen Verantwortung? Sie sagen, Sie sind kein Dopingkommissar. Aber ist nicht in Ihrer ärztlichen Berufung drin, strikt zu überwachen, dass gesunde Menschen keine rezeptpflichtige Arznei einnehmen?

Heinrich: Unter medizinischer Ethik verstehe ich, dass ich für die Gesundheit des Menschen zuständig bin. Dass ich versuche, seine Gesundheit zu erhalten oder ihn wieder in gesunden Zustand zurückzuführen, wenn er krank ist. Da gehört Prävention dazu. Aufklärung über die Risiken von Dopingsubstanzen, z.B. potenzielles Tumorwachstum bei Einnahme von Wachstumshormonen.

SZ: Epo?

Heinrich: Ist es ähnlich. Auch da kann man Langzeitfolgen schwer abschätzen. Es ist gesundheitlich im Vergleich zu vielen anderen Mitteln auf der Dopingliste unbedenklicher, aber es hat Folgeeffekte wie zu hohe Hämatokritwerte mit möglicher Thrombosegefahr und so weiter. Und es ist ein Medikament, und nicht für den Einsatz am Gesunden entwickelt.

SZ: Thema Floyd Landis. Kam es Ihnen nicht spanisch vor, wie der auf dieser einen Bergetappe das gesamte Feld abgehängt hat und davongeflogen ist?

Heinrich: Ich habe es natürlich für mich hinterfragt. Aber wenn man Sport schaut, hofft man auch immer ein bisschen auf Wunder. Oder? Man hofft als Zuschauer, der ich auch bin, darauf, an etwas Geschichtsträchtigem teilzuhaben. Dass man das immer hinterfragen kann, klar. Aber dann kommt man als Zuschauer an den Punkt, wo man sich entscheiden muss, schaut man sich das noch an.

SZ: Dann wollen wir zitieren, was Sie in einem Internetbeitrag zu jener sensationellen Etappe geschrieben haben, bei der Landis gedopt war: ,,Wie er es macht, spricht für seine Professionalität. Da kann man jede Menge lernen.'' Sie erklären dann in vier Punkten, wie das möglich war: Fahren nach Leistung, ständiges Essen und Trinken, ständige Kühlung durch Wasser und aerodynamische Haltung. Nirgendwo steht, dass Sie vielleicht noch eine andere Erklärung für so eine Irrsinnsleistung haben.

Heinrich: Da widerspreche ich. Das eine hat mit dem anderen nichts zu tun. Er hat professionell auf dem Rad ,,gearbeitet'' wie beschrieben. Das war auffallend. Das andere ist Vermutung. Dass ich das nicht thematisiere, heißt nicht, dass ich es nicht hinterfrage.

SZ: In dem Artikel hinterfragen Sie es eindeutig nicht. Mit keiner Silbe.

Heinrich: Man kann nicht erwarten, dass ich in diesem tagebuchartigen Artikel schreibe, was mir suspekt vorkommt.

SZ: Warum nicht? Man kennt Sie als Arzt, und man muss doch heute sagen, im Profiradsport, wo die Besten wegen Dopings fehlen, radelt der Verdacht immer mit. Oder hatten Sie Vereinbarungen?

Heinrich: Die hatte ich nicht.

SZ: Dann wäre es machbar gewesen.

Heinrich: Ich bin wissenschaftlich an die Sache rangegangen: Wie ist so etwas möglich? Ich habe die außergewöhnlichen Sachen, die ich bei Landis gesehen habe, aufgeschrieben. Der Journalist kann seine Zweifel aufschreiben. Aber ich bin auch als Leistungsphysiologe tätig und beschreibe, wie so was möglich sein könnte. Und: Am Testosteron allein kann es nicht gelegen haben.

SZ: Sicher nicht. Aber hätte das Misstrauen, das nach Ullrichs Fall gewachsen ist, nicht zu einer anderen Herangehensweise bei Ihnen führen müssen?

Heinrich: Jetzt muss ich eine Frage stellen: Wenn es um Glaubwürdigkeit geht, und Sie sagen, am Testosteron allein lag es Ihrer Meinung nach nicht, warum schreiben Sie das nicht?

SZ: Das tun wir jederzeit. Am Testosteron allein lag es bestimmt nicht, sondern, wie auch anerkannte Sportmediziner schon vermuten, am Zusammenspiel mit weiteren, nicht entdeckten Manipulationen. Sie würden also weiter sagen, der Auftritt war nicht dopingverdächtig?

Heinrich: Wir reden über Glaubwürdigkeit. Dazu zählt, zumal als Arzt, keine spekulativen Behauptungen aufzustellen.

SZ: Das andere ist auch Spekulation. In diesem Fall sogar eine falsche: Es lag eben nicht an der Kühlung und der aerodynamischen Haltung bei Landis, wie Sie vermuteten - stattdessen wären Sie mit dem Dopingverdacht richtig gelegen.

Heinrich: Ich habe weder das eine noch das andere gemutmaßt. Das steht mir als Arzt in diesem Fall nicht zu. Und ich denke nicht ständig dran: ist der gedopt oder nicht. Sonst brauche ich mir gar keinen Sport mehr anzugucken, keine Leichtathletik, kein Schwimmen, Fußball, nichts.

SZ: Was ändert sich nun alles mit dem künftigen Antidoping-Arzt Heinrich?

Heinrich: Ich bin kein Biochemiker. Ich werde mich in einige Sachen einarbeiten, wie das Thema Blutvolumen, weil es wissenschaftlich sehr interessant ist und gut ins Antidopingprogramm passt. Wir werden Proben einfrieren, weitere Vorsichtsmaßnahmen treffen. Aber ich bin kein Antidoping-Arzt, da gibt es Experten, die wir einbinden können.

SZ: Der Fall Armstrong zeigt, dass manchen nicht mal das Einfrieren von Urinproben schreckt. In dessen gekühlten Proben von 1999 ist 2005 gleich sechsmal Epo gefunden worden, trotzdem kam er aus der Sache raus.

Heinrich: Man konnte ihn juristisch nicht belangen.

SZ: Ist Armstrong für Sie, als Arzt und Szenekenner, ein sauberer Toursieger?

Heinrich: Man muss es hinterfragen. Aber er gewann sieben Mal, hat keine Schwäche gezeigt. Das ist außergewöhnlich und für mich nicht durch Doping zu erklären.

SZ: Trotz der Fülle von Belegen, Aussagen Dritter, trotz der sechs klaren Befunde?

Heinrich: Die sechs Befunde sind sechs Befunde. Offenbar war das Kontrollverfahren juristisch nicht haltbar. Wäre er 1999 überführt worden, hätten wir diese Diskussion nicht.

SZ: Es geht um Glaubwürdigkeit. Wir wollen doch keine juristische Expertise, sondern Ihre Einschätzung als ärztlicher Fachmann. Vertrauen Sie Armstrong?

Heinrich: Ich kenne ihn nicht, wie sollte ich ihm da mein Vertrauen schenken?

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