Im Frühjahr war die Geschichte der Olympischen Spiele in Athen noch halbwegs in Ordnung. Es war viel passiert damals, im Sommer 2004, auch viel Unerfreuliches. Vor allem die Flucht der griechischen Leichtathletik-Idole Konstantinos Kenteris und Ekaterini Thanou vor der Dopingfahndung am Vorabend der Eröffnungsfeier war in Erinnerung geblieben. Der Dopingverdacht war damals sehr gegenwärtig bei den Wettkämpfen, es gab viele positive Tests. Aber im Grunde war alles ausgestanden.
Die Ergebnisse ruhten in den Chroniken, und da ruhten sie gut, wie das Internationale Olympische Komitee (IOC) offensichtlich fand. Der TV-Sender ARD fragte, ob das IOC seine Politik umgesetzt habe, nach der es die eingefrorenen Proben aus dem Teilnehmerfeld binnen acht Jahren nachträglich mit moderneren Testverfahren prüfen konnte. Arne Ljungqvist, Chef der medizinischen Kommission im IOC, sagte: "Warum hätten wir das tun sollen? Auf was sollten wir denn nachtesten? Die Methoden damals waren gut genug. Wir haben keine Informationen, dass damals irgendwas genommen wurde, das wir nicht testen konnten." Und nun?
Nun stehen ein Olympiasieger und vier weitere Medaillengewinner als mutmaßliche Betrüger da. Der Sport muss aufs Neue feststellen, dass es nicht reicht, seine Geschichte in Hochglanzfolianten und verklärenden Erinnerungen zu bewahren. Das IOC hat sich dann nämlich doch noch belehren lassen, nachdem es viel Kritik gegeben hatte an seiner nachlässigen Art. Im Mai räumte Ljungqvist ein, dass das IOC vor Ablauf der achtjährigen Frist am 29. August Nachtests veranlassen werde. 110 der 3667 Proben kamen auf den Prüfstand.
Im Juli erklärte Ljungqvist, dass die Nachuntersuchungen weitere Verdachtsfälle ergeben hätten. Zuletzt meldete die Nachrichtenagentur Reuters, die fünf verdächtigen Proben von 2004 stünden als Thema auf der Tagesordnung der IOC-Vorstandssitzung am 4. und 5. Dezember. Und die ARD meldete am Montag, wer nach ihren Informationen die Athleten seien, bei denen die Anti-Doping-Forscher nachträglich Steroid-Missbrauch nachgewiesen haben: Kugelstoß-Sieger Juri Belonog (Ukraine), der weißrussische Hammerwurf-Zweite Ivan Tichon sowie die drei Bronzemedaillen-Gewinner Irina Jatschenko (Weißrussland/Diskus), Kugelstoßerin Swetlana Kriweljowa und Gewichtheber Oleg Prepetschenow (beide Russland).
Es folgten die naheliegenden Reaktionen: Die Athleten bestreiten jede Schuld. Swetlana Kriweljowa, mittlerweile 43, Olympiasiegerin von 1992 und Weltmeisterin von 2003, hat laut Sportinformationsdienst sogar gedroht: "Wenn sie kommen und mir die Medaille wegnehmen wollen, sage ich ihnen, zur Hölle mit euch." Und das IOC ist natürlich überhaupt nicht begeistert von den jüngsten ARD-Enthüllungen. Es kommentiert die genannten Namen nicht, stattdessen bemerkt Sprecher Mark Adams auf SZ-Anfrage spitz: "Jeder spezifische Kommentar von jedem, der in den Prozess eingebunden ist, wäre auf extreme Weise nicht hilfreich und könnte in den Fällen zu Vorverurteilungen führen." Aber das ändert nichts daran, dass durch die jüngste Entwicklung wieder mal anschaulich wird, dass die schönen, bunten Bilder des Hochleistungssports oft nicht das sind, nach was sie im ersten Augenblick aussehen.
Im Radsport hat sich gerade erst eine ganze Ära in Luft aufgelöst, nachdem die amerikanische Anti-Doping-Agentur Usada das System des Lance Armstrong ans Licht gebracht hat. Die Bildbände zu Olympia 2000 in Sydney gelten heute als Dokumente eines Spektakels, das es so gar nicht hätte geben dürfen. Denn infolge der Enthüllungen um das Doping-Labor Balco in Kalifornien hat die damals überragende Sprinterin Marion Jones ihre drei Goldmedaillen abgeben müssen.
Und in Wirklichkeit wird alles noch schlimmer sein, denn eher selten schalten sich wie in den Fällen Armstrong und Jones Behörden in die Ermittlungen ein. Zu oft greift das lückenhafte Testsystem des Sports mit vollen Händen ins Leere - und zwar immer noch, auch wenn die Testmethoden besser geworden sind. Erst bei Olympia in London hat Gabriel Dollé, Chefmediziner des Welt-Leichtathletik-Verbandes IAAF, auf Probleme bei Trainingskontrollen in Ländern mit ausbaufähiger Infrastruktur wie Jamaika und Kenia hingewiesen: Die Proben in der vorgeschriebenen Zeit von dort in akkreditierte Labors zu bringen, sei "sehr schwierig".
Im Grunde ist es sogar eine Überraschung, dass die Nachtests von Athen nur fünf Positivfälle gebracht haben. Damals gab es schließlich gerade in der Leichtathletik schwer verdächtige Überraschungssieger wie Julia Nesterenko (Weißrussland/100 Meter) und Fani Halkia (Griechenland/400 Meter Hürden). Oder Goldgewinner wie die Amerikaner Justin Gatlin (100 Meter) und Shawn Crawford (200 Meter), deren damaliger Trainer Trevor Graham später im Zuge der Balco-Affäre als Doping-Coach verurteilt wurde; Halkia und Gatlin wurden nach 2004 wegen positiver Tests gesperrt.
Das IOC steht weiterhin in der Kritik. John Fahey, Präsident der Welt-Anti-Doping-Agentur Wada, hat sich über die Nachtestpraxis der Ringe-Verwalter beschwert. "Warum behält man die Proben überhaupt acht Jahre, wenn man sie nicht komplett analysiert?", fragt Fahey. Mark Adams erwidert für das IOC: "Ich muss sagen, dass die Wada in jede Phase der Nachtest-Entscheidungen und -Prozesse eingebunden war." Der Sport wirkt insgesamt etwas träge, wenn es darum geht, die eigene Geschichte umzuschreiben.