Dopingfall Claudia Pechstein:Experten aus dem 19. Jahrhundert

Nachdem der internationale Sportgerichtshof Cas ihre Argumente zerpflückt hat, verliert Claudia Pechstein nun auch den ersten Sponsor.

Claudio Catuogno

Claudia Pechstein und ihre Berater, das ist jetzt klar, haben nicht nur der Öffentlichkeit immer neue, angeblich entlastende Argumente präsentiert in den letzten Monaten. Sie haben auch vor Gericht wirklich alles versucht. Bisweilen machen sich die drei Richter des internationalen Sportgerichts Cas, Stephan Netzle, Michele Bernasconi und Massimo Coccia über diesen Eifer sogar ein bisschen lustig in ihrem 63-seitigen, an diesem Mittwoch veröffentlichten Urteil, in dem sie begründen, warum sie die Berliner Eisschnellläuferin für eine überführte Blutdoperin halten.

Dopingfall Claudia Pechstein: Claudia Pechstein: Nach dem Urteil des Sportgerichtshofes Cas verliert sie jetzt auch Sponsoren.

Claudia Pechstein: Nach dem Urteil des Sportgerichtshofes Cas verliert sie jetzt auch Sponsoren.

(Foto: Foto: dpa)

In Ziffer 175 zum Beispiel: Pechstein, heißt es dort, habe in der Verhandlung das "Taschenbuch der medizinisch-klinischen Diagnostik" gezückt, genauer: dessen 73. Auflage aus dem Jahr 2000. Was dort zu lesen war? Dass der Anteil der Retikulozyten, also der jungen roten Blutkörperchen, bei Frauen bis zu 4,1 Prozent betragen könne. Und damit deutlich mehr als jene angeblich stark erhöhten 3,5 Prozent, wegen der man die fünfmalige Olympiasiegerin im Juli gesperrt hat. Überzeugend fanden diesen Vortrag allerdings weder Richter noch Fachleute, die Zahl stamme aus einer Zeit, als Blutkörperchen noch unter dem Mikroskop ausgezählt wurden, heißt es im Urteil. Und "die Original-Autoren" der betreffenden Studie "wurden im 19. Jahrhundert geboren". Ein Arzt, der diese Werte heute noch als normal bezeichne, "würde es versäumen, eine möglicherweise tödliche Blutkrankheit zu diagnostizieren".

Wie eine Mischung aus Realsatire und schriftlich formulierter Ohrfeige klingt das Cas-Urteil auch an anderer Stelle (Ziffer 209): Das Gutachten des Charité-Professors Christof Dame, der bei Pechstein mit Hilfe von Algorithmen eine Mutation des Epo-Gens entdeckt haben will, fanden die Richter "faszinierend". Was es mit dem konkreten Fall zu tun habe, begriffen sie aber nicht, schließlich beträfen derartige Mutationen "zwischen 34 und 50 Prozent der weiblichen Bevölkerung", und zudem bezögen sich Dames Studien auf "embryonale Nierenzellen" und auf "die Epo-Konzentration im Glaskörper des Auges".

Eines Besseren belehrt

Pechsteins Berater hatten die Expertise kurz vor der Berufungs-Verhandlung in Lausanne noch als Durchbruch gefeiert. Und Gerd Heinze, der Präsident der Deutschen Eisschnelllauf-Gemeinschaft (DESG), war daraufhin ganz erleichtert, "dass alles genetisch erklärbar ist". Nun ist auch Heinze eines Besseren belehrt.

Jedenfalls dann, wenn er sich nicht doch noch der Lesart von Pechstein und ihrem Berater Ralf Grengel anschließt, die das Urteil - gerade wegen seiner detailreichen und stringenten Argumentation - für eine riesengroße Unverschämtheit halten. Die Richter hätten sich die Sache "hingebogen", hatte die Berlinerin gleich nach der Verkündigung mitgeteilt. Am Donnerstag schrieb sie auf ihrer Homepage: "Meine Verurteilung ist nicht mehr als ein Justizirrtum. Ein Kollateralschaden, der scheinbar im Umfeld aller Verbände und Institutionen hingenommen wird, damit der Anti-Dopingkampf keinen Schaden nimmt. Das Ganze ist der nackte Wahnsinn."

Gegen diese Verschwörungstheorie spricht indes ein weiteres, bisher unbekanntes Detail aus dem Richterspruch: Ziffer 68. Bisweilen hatten ja auch unabhängige Experten kritisiert, der Eisschnelllauf-Weltverband ISU stelle bei seiner indirekten Beweisführung gegen Pechstein nur auf die Retikulozyten ab, weitere Indizien fehlten. Allerdings trug die ISU in Lausanne auch vor, dass Pechstein Anfang 2009 - also vor der WM in Hamar - die Angaben über ihren Aufenthaltsort so oft verändert habe, dass es "schwierig, wenn nicht unmöglich" gewesen sei, eine Trainingskontrolle bei ihr durchzuführen. Ein solches Verwirrspiel in jenem Zeitfenster, in dem etwa das Blutdopingmittel Epo bei Tests gefunden würde, gehört zum Handwerkszeug professioneller Doper. Erschüttern könnte Pechstein diesen Vorwurf, indem sie ihre Angaben an die Antidoping-Agenturen, die sogenannten "Whereabouts", veröffentlicht. Nicht nur der Rechtsstreit wird also weitergehen - auch der Kampf um die Deutungshoheit.

Pechstein hält Krisengespräche

Am Donnerstag verzichtete Pechstein auf ihr Eistraining, um sich zum Krisengespräch mit Grengel und ihrem Anwalt Simon Bergmann zu treffen. Der Gang vor ein ordentliches Gericht - das Schweizerische Bundesgericht am Cas-Sitz Lausanne - ist längst beschlossen, allerdings prüft dieses die Sportrechtssprechung nur formal, nicht inhaltlich.

Und für die Vertreter des Sports sind ohnehin die höchstrichterlichen Urteile aus ihrer eigenen Welt maßgeblich - wollen sie den Cas nicht desavouieren, haben sie nun keine andere Möglichkeit mehr, als sich von Pechstein abzuwenden. Die bemerkenswerteste Kehrtwende vollführte noch am Mittwoch Thomas Bach, der Präsident des Deutschen Olympischen Sportbundes (DOSB), der trotz der ISU-Sperre gegen Pechstein stets betont hatte, es gelte weiter die Unschuldsvermutung. Nun hält Bach die Athletin ausdrücklich für schuldig und forderte sie sogleich zur "umfassenden Aufklärung" auf. Doping "mit dieser wissenschaftlichen Expertise kann von einer Sportlerin nicht ohne Hilfe von Fachleuten bewerkstelligt worden sein", sagte er. Pechstein müsse nun ihre "Hintermänner" preisgeben. Und andere Verbände sollten nun ebenfalls gegen Sportler mit auffälligen Werten vorgehen.

Auch den ersten persönlichen Sponsor hat Claudia Pechstein am Tag nach dem Cas-Urteil verloren: Eine Internet-Bank kündigte ihr mit sofortiger Wirkung. Ein Schaumwaffel-Hersteller aus Mecklenburg-Vorpommern hingegen will jetzt erst recht den Vertrag verlängern, und der "Claudia-Pechstein-Förderverein", der im Stillen schon 15.000 Euro gesammelt hat, will nun "auch öffentlich um Gelder für sie werben". Das sagte zumindest der Gründer des Vereins, ein Berliner Frisör.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: