Süddeutsche Zeitung

Dopingenthüllungen um Lance Armstrong:Lebenslüge eines gewieften Tyrannen

Jetzt ist es raus - und alle fragen sich, wie der Betrug so lange gutgehen konnte: Der siebenmalige Tour-de-France-Sieger Lance Armstrong hat mehr als 15 Jahre lang gedopt und die ganze Welt genarrt. Der bahnbrechende Bericht der amerikanischen Anti-Doping-Agentur Usada offenbart ein infames Betrugssystem. Die Details sind alarmierend.

Andreas Burkert

Spät am Mittwochabend meldete sich auch der Mann zu Wort, um den es im Kern geht in dieser spektakulären Geschichte, die jetzt kein Sportmärchen mehr ist, sondern ein Kriminalstück mit ihm als Schurken. Lance Armstrong teilte allerdings nicht mit, dass er Hunderte Dopingtests überstanden habe und dass er niemals gedopt habe.

So hatte er sich stets in all den Jahren verteidigt, wenn neue Vorwürfe bekannt geworden waren, dass er, der erfolgreichste Radsportler, ein Idol des Weltsports mit der zauberhaften Story eines Krebsüberlebenden, dass auch er seine wundersamen Leistungen mithilfe von verbotenen Medikamenten und Behandlungsmethoden erreichte.

"Was mache ich heute Abend?", teilte Armstrong mit: "Ich verbringe Zeit mit meiner Familie, ungerührt."

Wer diesen vom Ehrgeiz und der Verehrung für das eigene Ich getriebenen Texaner bei seinen sieben Tour-de-France-Siegen erlebte, einen manischen Tyrannen des Pelotons, der nimmt ihm das eher nicht ab. Denn was nun zu seinem Leben in seiner früheren Familie bekannt wurde, in der sonderbaren Familie des Radsports, das muss ihn treffen.

Seine besten Freunde haben ihn verraten, unter Eid. Und jeder kann sie jetzt lesen, jene 202 Seiten der Urteilsbegründung, welche die Usada, die US-Anti-Doping-Agentur, zu seiner im Juni verkündeten lebenslangen Sperre und der Aberkennung sämtlicher Ergebnisse seit August 1998 verfasst hat. Sie ist über die Usada-Homepage im Netz verfügbar, samt Zusatzdaten sind es insgesamt gut 1000 Seiten. Ein minutiös recherchierter Krimi.

Lance Armstrong, 41, stand als Kapitän der Rennställe US Postal und Discovery Channel im Zentrum "eines massiven Teamdoping-Systems, das umfassender war als jedes zuvor entdeckte in der Geschichte des Sports", heißt es zu Beginn des Reports. Der Gebrauch von gängigen Dopingmitteln wie Epo oder Testosteron, die Anwendung von Bluttransfusionen wird ihm vorgeworfen, ebenso der Handel und die Verteilung der Mittel sowie die Anordnung an die Kameraden, sich am Doping zu beteiligen.

Zuletzt hatte es Armstrong abgelehnt, sich vor einem unabhängigen Schiedsgericht des Sports zu verteidigen, er kooperierte nicht mit den Ermittlern um den furchtlosen Usada-Chef Travis Tygart. "Er wusste ja, was wir wissen", sagte Tygart.

Nur, ob Armstrong das wirklich wissen konnte? Dass einstige Kumpel derart detailliert gegen ihn aussagen würden, so wie George Hincapie, der Armstrong bei sämtlichen Toursiegen von 1999 bis 2005 begleitete, den der Boss "meinen Bruder" nannte und der nun preisgab, er gehe davon aus, dass Armstrong seit 1996 dopte und dass er von ihm ständig Epo und diese Sachen bekam, dass er sah, wie Armstrong dopte?

26 Kronzeugen haben bei Tygart ausgepackt, darunter elf ehemalige Mannschaftskollegen von Armstrong. Eine einzigartige Geständniswelle spült somit die brüchigen Mauerreste einer Wagenburg hinweg, die schon seit mehr als einem Jahrzehnt bröckelte - die Lance Armstrong jedoch immer wieder kitten konnte mit massiven Drohungen und vermutlich der Hilfestellung durch den Radsport-Weltverband UCI.

Ausgangspunkt der Usada-Ermittlungen waren Untersuchungen in der südkalifornischen Radsportszene im Winter 2008 und die Kontaktaufnahme zu Floyd Landis, der von 2002 bis 2004 Armstrong als Helfer durchs Gebirge eskortiert hatte. Landis, 36, gewann 2006 für ein anderes Team die Tour de France, wenige Tage nach der Ankunft in Paris war er aber als Betrüger enttarnt: positiv auf Testosteron.

Der etwas kauzige Sohn einer mennonitischen Familie aus Pennsylvania wurde gesperrt, sein Sieg gestrichen. Er stritt lange alles ab - bis er im Mai 2010 ausbrach aus einem Lügengebilde: Er verschickte wütende E-Mails mit Anschuldigungen gegen Armstrong, der ihn ins Doping eingewiesen habe. Die Mails gingen an Sportorganisationen, auch an die seiner Meinung nach korrupte UCI.

Tygart und seine Leuten vernahmen in diesem Frühjahr Zeugen, Fahrer wie eben Landis oder Tyler Hamilton, der bereits im US-Fernsehen ein Geständnis abgelegt hatte und der ebenfalls Armstrong als seinen Lehrmeister in Sachen Doping desavouierte. Diesen jeweils ertappten Betrügern könne doch keiner glauben, ätzten Armstrong und die UCI, die sich von den beiden Geständigen vorhalten lassen musste, sie habe sogar einen positiven Dopingtest Armstrongs von der Tour de Suisse 2001 vertuscht. Armstrong und sein Teammanager Johan Bruyneel, so Landis, "flogen in die UCI-Zentrale für eine finanzielle Abmachung, damit der positive Test unter Verschluss blieb".

Der Verband weist das bis heute zurück, doch in dem Usada-Dossier findet sich nun auch ein Indiz für die mutmaßliche Protektion des Zugpferds Lance Armstrong: "Verdächtig" seien die Testwerte bei Armstrong 2001 gewesen, hat der Lausanner Laborchef Martial Saugy ausgesagt, sie zeigten zu 70 bis 80 Prozent typische Epo-Parameter an. "Wir haben Armstrongs Proben von der Tour de Suisse bei der UCI angefordert", schreibt dazu die Usada. "Doch die UCI hat das ablehnt." Denn Armstrong habe "die Weitergabe der Information abgelehnt".

Schon bei seinem ersten Tour-de-France-Sieg 1999 war Armstrong positiv gewesen. Die UCI hatte damals jedoch ein nachgereichtes Cortison-Attest akzeptiert. Viele Teammitglieder, so steht es nun in dem Bericht, hätten die Wahrheit gewusst: Der Teamarzt habe "das Attest rückdatiert", und "die Story wurde akzeptiert von denjenigen, auf die es ankam".

Nachdem Armstrong 2005 zurückgetreten war, veröffentlichte die französische Sportzeitung L'Équipe den in Nachtests erbrachten Nachweis von gleich sechs Tour-Proben aus dem Jahr 1999, in denen sich der Blutbeschleuniger Epo fand. Als Armstrong im Oktober 2008 sein Comeback ankündigte, nahm sich die UCI auch dieser Sache nicht einmal nachträglich an. Die Usada ist jetzt im Besitz der 99er-Analysen. Das Urteil: "Jede der sechs Armstrong-Proben von der Tour 1999 weist Epo auf."

Die Untätigkeit der Dachorganisation hat länger als ein Jahrzehnt eine Dopingverschwörung aufrechterhalten, die Armstrong laut Usada "mithilfe einer kleinen Armee von Unterstützern, inklusive Dopingärzten und Drogenschmugglern" betrieb. Nach überstandener Hodenkrebs-Erkrankung kehrte er im Frühjahr 1998 zurück und pumpte sich, wie schon vor der Chemotherapie, mit Dopingsubstanzen voll. Angeleitet hat ihn vor allem der berüchtigte italienische Arzt Michele Ferrari, ein verurteilter Mediziner. Die Usada ist im Besitz von Banküberweisungen an Ferraris Firma in Höhe von gut einer Million Dollar für den Zeitraum von 1996 bis Ende 2006.

"Jeder tut es"

Ferrari ist ebenfalls lebenslang gesperrt. Alle mussten sie zu ihm, 15 000 Dollar war der Grundbeitrag pro Jahr, berichtete Hincapie. Kollege Christian Vandevelde sagte aus, Armstrong habe ihn 2002 in seinem Appartement unter Druck gesetzt, "strikter Dr. Ferraris Dopingprogramm zu folgen", wenn er seinen Platz im Team nicht verlieren wolle. Oder David Zabriskie, ebenfalls ein amerikanischer Profi: Sein Vater hatte sich mit Drogen bis zum Tod selbst zerstört, er wollte deshalb niemals dopen. Teamchef Johan Bruyneel habe ihm 2003 versichert: "Jeder tut es." Zabriskie, damals 23, spritzte sich nach dem Gespräch in Girona dann zu Hause erstmals Epo. Er war geschockt.

Viele solche Episoden enthält die Urteilsschrift der Usada, sie entlarvt Armstrongs Karriere als Lebenslüge. Zeugen erzählen von den Epo-Flakons in seinem Kühlschrank, die im Rennen alle "drei, vier Tage" verabreicht wurden; von den Blutkonserven, dem "flüssigen Gold", die ein motorisierter Kurier, der "Motoman", in die Hotels oder an die Strecke gebracht habe.

Sogar Armstrongs frühere Frau Kristin war demnach eingeweiht und reichte Dopingmittel. Die Wagenburg hielt ja, das Schweigegelübde, genannt Omertà. Wegen des Drucks, den Armstrong und Johan Bruyneel ausübten, und weil "die Postal-Betreuer ein außergewöhnliches Warnsystem für Dopingtests hatten", wie der einstige Teamkollege Jonathan Vaughters zu Protokoll gab: "Wir schienen gewöhnlich eine Stunde Vorsprung zu haben." Zeit genug, um eine kaschierende Salzlösung zuzuführen. Vaughters, Vandevelde, Zabriskie und andere Kronzeugen waren niemals positiv.

Die Sportwelt ist jetzt geschockt. Und die UCI? Sie wundert sich, dass jetzt alles online steht. Der Weltverband wird Armstrong die sieben Tour-Siege aberkennen, es geht gar nicht anders. Armstrong? Ließ noch einmal seinen Anwalt Tim Herman vor, der nannte die Usada-Publikation "unbestätigt" und einen "einseitigen Verriss". Einseitig, ja, da hat Mister Herman recht. Es ist das Urteil der Anklage.

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SZ vom 12.10.2012/jbe
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