Doping:Wie der McLaren-Bericht den Staat und die Fußball-WM schützt

Doping: Kennt sich bestens mit Sex aus: Vize-Premier Witali Mutko neben Präsident Wladimir Putin.

Kennt sich bestens mit Sex aus: Vize-Premier Witali Mutko neben Präsident Wladimir Putin.

(Foto: Mikhail Klimentyev/AFP)

Der Report erhellt zwar die Tiefen des russischen Staatsdopings. Doch er verschleiert die Verantwortung der zentralen Personen

Von Johannes Aumüller und Thomas Kistner

Das wichtigste Dokument des Jahres 2016 im Weltsport? Keine Frage, der McLaren-Report. 97 Seiten umfasste Teil eins im Juli, 144 Seiten folgten im Dezember. Die Autoren hinterlegten zudem in einer im Internet zugänglichen Datenbank 1166 Mails und andere Dokumente. Dieser Fundus dokumentiert all den Schmutz des russischen Dopings, der den Sport im ablaufenden Jahr so aufgewühlt hat - und ihn weiter massiv prägen wird. Denn der Report ist auch die Brücke nach 2017 und 2018: ins Jahr der Fußball-WM.

Die Arbeit des von der Welt-Anti-Doping-Agentur (Wada) eingesetzten Sonderermittlers Richard McLaren ist einmalig in der Sportgeschichte. Was aber hat der kanadische Sportjurist genau vorgelegt? Die Antwort darauf ist gar nicht so eindeutig, wie es in diesen Tagen den Anschein hat. Denn der Report offenbart zwei Seiten, eine verdienstvolle und eine fragwürdige.

Der Bericht wird schwammig, wo immer es um die Eckpfeiler geht: Staat, Fußball-WM, NOK

Verdienstvoll ist die Kärrnerarbeit, die einen mit staatlicher Akribie kompilierten Pharmabetrug offenlegt und endlose Belege für Doping und Dopingvertuschung im russischen Sport präsentiert. Mehr als 1000 Athleten profitierten demnach davon. Die ersten Wintersportler sind schon suspendiert, mehr Athleten werden folgen, Ergebnislisten von Olympischen Spielen müssen umgeschrieben werden. Die Enthüllungen sind so ungeheuerlich, dass weltweit erstmals sogar die Athleten - bisher das schwächste und faktisch willenlose Glied in der Verwertungskette des Kommerzsports - heftig protestieren.

Daneben gibt es eine andere Seite. Sie geht, ob all der Aufgeregtheit, bisher eher unter: Der Report kreiert diskret ein Raster, mit dessen Hilfe die Sportmacht Russland und seine traditionellen Verbündeten im Internationalen Olympischen Komitee (IOC) recht kommod durch die nächsten Monaten steuern können. Trotz der klaren Belege, der vernichtenden Detailfülle. Womöglich ist das der Grund, warum der IOC-Chef Thomas Bach McLaren nach der Präsentation so lobte.

Denn der Report des Kanadiers wird schwammig, wo immer es um die Kernfrage geht: die Verantwortung der höchsten Protagonisten aus Politik und Sport für diese Pharma-Groteske. Dann versickern die Hinweise, werden unscharf. McLaren betont zwar, dass er nur Fakten sammeln, die Bewertungen aber anderen überlassen würde. Aber wo er sich dann äußert, bietet er Botschaften an, die nicht der Faktenfülle entsprechen, die er selbst dokumentiert hat. Geradezu dramatisch ist der politische Schwenk, den er zwischen den Berichten im Juli und im Dezember vollzieht.

Das betrifft als Erstes die Kernfrage nach der Rolle des Staates. Interessanterweise sprach McLaren im ersten Report von einer staatlichen Steuerung. Im zweiten, der noch viel mehr Pharma-Unrat transportiert, rudert der Chefermittler plötzlich zurück. Es konstatiert ausdrücklich nur noch eine "institutionelle Verschwörung", an der, Achtung, Sportministerium, der Geheimdienst FSB, Kontrolllabor und Anti-Doping-Agentur beteiligt waren. "Ich habe die Terminologie gewechselt. Ich benutze jetzt nicht mehr das Wort staatlich", erklärte er jüngst. SZ-Anfragen zu diesem Wechsel beantwortete er nicht.

Wurde das Fußball-Problem still entsorgt?

Die russische Regierung nimmt es jedenfalls dankbar auf. Dabei stehen die Beteiligung des FSB und des Sportministeriums außer Frage; der stellvertretende Sportminister Jurij Nagornych musste deshalb sogar gehen. Ist so ein System nicht schon logisch als staatlich gesteuert zu verstehen? Und wie soll so etwas praktisch funktionieren: Ruft da irgendein Mitarbeiter der dritten Ebene mal eben beim Geheimdienst an und bittet darum, Proben zu manipulieren? Entwickelt der Geheimdienst einfach mal so ein komplexes Prozedere, mit dem man die bisher als manipulationssicher geführten Dopingsiegel diskret öffnen und wieder verschließen kann? Macht der Vize-Minister in seinem Haus einfach, was er will - ohne dass sein Chef Witalij Mutko oder sonst ein Regierungsmitglied das mitbekommen?

McLaren tritt stets als unabhängig auf, aber das ist er nur in Maßen

Interessanterweise gibt McLaren selbst die Antwort. Wie auf Seite 63 des Reports, wo es heißt: "Verschiedene Schritte und Maßnahmen wurden eingeleitet (. . .) unter Anleitung und Wissen von Minister Mutko und dem stellvertretenden Minister Nagornych, unter direktem Einbezug des Bundessicherheitsdienstes (FSB)." Minister Mutko, der Geheimdienst FSB - aber kein Staatsdoping? Die Frage ist, was es noch braucht, um ein solches zu konstituieren.

Krisenpunkt zwei, derzeit so wichtig wie die Staatsräson: die Fußball-WM 2018, für Russland das wichtigste Sportereignis der nächsten Dekaden. Im Land ist hierfür der langjährige Sportminister Mutko die zentrale Figur, er firmiert überdies als Chef des Fußballverbandes RFS und sitzt im Vorstand des Weltverbandes Fifa. Trotz des Skandals um sein Ministerium stieg er kürzlich zum Vize-Premier auf. Dabei entschied doch sein Stellvertreter Nagornych über Jahre, welche Proben vertuscht werden sollten. Und im ersten Report findet sich gar ein konkretes Beispiel, wie Mutko selbst eine Anweisung gegeben haben soll. E-Mails zeigten demnach, dass die Entscheidung über die Vertuschung eines Positivbefundes bei einem Erstliga-Kicker von VL gestammt habe - diese Initialen stehen für die englische Transkription von Mutkos Vornamen, Vitaly Leontjevich.

12 Athleten

aus Russland wurden bislang von internationalen Wintersportverbänden provisorisch gesperrt, weil sie im zweiten McLaren-Report auftauchen: Zwei Biathletinnen, sechs Langläufer, vier Bob- und Skeletonfahrer. In Alexander Legkow ist mindestens ein Medaillengewinner von Sotschi 2014 darunter; der Langläufer verpasst damit die am Samstag beginnende Tour de Ski. Insgesamt sollen mehr als 1000 Sportler vom Systembetrug profitiert haben.

Bei der Präsentation seines ersten Reports forderte McLaren das Fifa-Ethikkomitee sogar zu Ermittlungen in Sachen Mutko auf; die Wada gab eine Pressemitteilung heraus. Die Fifa-Ethiker baten den Kanadier sogleich, ihnen die Beweise und Dokumente zu übersenden. Doch McLaren rührte sich nicht, auch auf wiederholte Bitten. Im August erwiderte er auf die SZ-Anfrage, warum die Fifa-Ethiker noch immer kein Mutko-Material vorliegen haben: "Ich bin nicht sicher, was wir tun werden, wir müssen unser Material auswerten und dann entscheiden." Bis heute, Wochen nach Herausgabe des zweiten Reports, haben die Ethiker nichts erhalten. Wurde das Fußball-Problem inklusive der lauthals geforderten Mutko-Ermittlung still entsorgt? Der Eiertanz um Moskaus Vizepremier irritiert umso mehr, als auch die im zweiten Report publizierte Datenbank die Verdachtslage stark auf den Fußball lenkt. 33 Fälle sind dokumentiert. Und alarmierend: Betroffen sind neben Erstliga-Profis auch U17- und U21-Jugendspieler. Genannt wird etwa der Wirkstoff Arimistan, gefunden kurz vor Beginn der EM-Qualifikation 2014. Auch tauchen in einem Mail-Konvolut fünf Mal die Initialen VL auf, zu lesen ist unter anderem "Das ist die Entscheidung von VL" oder "Das ist besprochen mit VL". Die Passagen klingen eindeutig. Dennoch prangert McLaren Mutkos Rolle nicht offensiv an, er relativiert sie sogar: Es gebe keine Beweise, dass er von der Verschwörung gewusst habe.

Punkt drei: das Nationale Olympische Komitee Russlands (ROK). Die angebliche Reinheit dieses Gremiums im Zentrum allen Sports diente dem IOC dazu, das russische Team unter russischer Flagge in Rio starten zu lassen; zum Entsetzen der internationalen Sportwelt und der Anti-Doping-Kämpfer. Der Dreh: Das ROK sei nicht am Dopingkonstrukt beteiligt gewesen. Das war eine höchst eigenwillige Bewertung von McLarens erstem Report, zumal Vize-Minister Nagornych Teil des NOK war. Bericht zwei fiel auch diesbezüglich zurückhaltender aus, es gebe "keine Beweise", dass das Gremium involviert war. Dem IOC steht die Argumentationskette also weiter zur Verfügung - etwa, wenn es um die Winterspiele 2018 in Korea geht.

Der Report offenbart eine bizarre Konstruktion: Einzelne Sportler und Verbände müssen Sanktionen fürchten. Zugleich bleiben die Eckpfeiler - Staat, Fußball-WM, ROK - geschützt. So entsteht hinter dem schockierenden Betrugsbild ein noch beklemmenderes Szenario. Eines, das die Sinnlosigkeit zeigt, wenn der Sport selbst seine Ermittler beruft. Zwar trat McLaren als unabhängig auf, als "Independent Person". Aber das ist er nur in Maßen. Er war über Jahre Richter am obersten Sportgerichtshof Cas; beauftragt wurde er von der Wada, die schon 2012 von der Diskuswerferin Darja Pischtschalnikowa auf systematische Missstände in Russland hingewiesen worden war (wie auch das IOC). Die Wada schickte die brisante Mail an die russische Anti-Doping-Agentur weiter. An die Funktionäre, die von der Athletin der Vertuschung bezichtigt wurden.

Am Kern des Problems rührt auch McLarens Report nicht. Die Fußball-WM unter Mutkos Regie ist nicht gefährdet; die Welt darf auf Russlands runderneuertes Team gespannt sein. Große Hoffnung ruht dann auf Juniorenauswahlspielern von gestern.

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