Urteil in Innsbruck:Ganz viel Stoff im Doping-Prozess

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Doppelleben als Doping-Kronzeuge und Doping-Vermittler: Johannes Dürr. (Foto: Daniel Liebl/imago)

Ex-Langläufer Johannes Dürr wird zu 15 Monaten Haft auf Bewährung verurteilt. Doch der Prozess wirft auch neue Fragen auf: zur Rolle eines deutschen Arztes - und zum Systemproblem im Österreichischen Skiverband.

Von Johannes Knuth, Innsbruck

Das Publikum, das sich an diesem Montagmorgen in den Schwurgerichtssaal drängt, ist überraschend jung. Eine Klasse der Handelsschule Wörgl hat einen Ausflug ans Landesgericht in Innsbruck unternommen, die Schüler tragen Kapuzenpullis und Jacken, auf denen "Tiroler Skiverband" steht. Silke Heinz-Ofner, die Lehrerin der Handelsschüler, sagt am Rande, man nehme im Unterricht gerade die Logistik von Großveranstaltungen durch: wie man sie organisiert und vermarktet, auch im Sportbereich.

Tatsächlich ist der Prozess, den sie sich ausgesucht hat, ein spannender. Allerdings eher, was die gletscherspaltentiefen Abgründe angeht, die im Sportbereich mit seinen Großevents klaffen.

Es dauert elf Stunden, die Nacht leuchtet schon durch die schmalen Fenster in den holzvertäfelten Saal, ehe die Urteile ergehen: 15 Monate Bewährungsstrafe und 720 Euro Geldstrafe für Johannes Dürr, den ehemaligen Ski-Langläufer, der vor einem Jahr mit seinen Aussagen eine internationale Dopingaffäre losgetreten hatte. Und zwölf Monate auf Bewährung sowie 3100 Euro Buße für Gerald Heigl, einen ehemaligen Langlauftrainer im Österreichischen Skiverband (ÖSV). Beide Angeklagten haben stundenlang ausgesagt; andere, bereits verurteilte Athleten sind als Zeugen aufgetreten; zwei deutsche Mediziner sind als mutmaßliche Hintermänner zur Sprache gekommen; alte Bekannte sind in den Fokus gerückt. Es ist ein Tag der Schlussstriche, es ist aber auch ein Tag, der in dieser gewaltigen Affäre viele neue Triebe sprießen lassen könnte.

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Am Morgen, um neun Uhr, ist Johannes Dürr noch sehr angespannt. Der 32-Jährige trägt ein weißes Hemd, die blonden Haare sind akkurat zur Seite gescheitelt. Was ihn bewegt, lässt er gleich zu Beginn durchblicken. Seine Dopinggeschichte, die verhandelt wird, "verfolgt mich schon sehr lange", sagt er: "Ich bin froh, dass ich in ein neues Leben gehen kann." Dafür muss er aber noch einmal sein altes offenlegen. Eines, das Stoff für eine Verfilmung böte.

Dürr beschreibt zunächst, wie er, ein großes Talent aus einem niederösterreichischen Dorf, damals in den Betrug schlitterte. Wie er bei den Olympischen Winterspielen 2014 in Sotschi mit dem Blutbeschleuniger Epo aufflog, zwei Jahre gesperrt wurde - und sofort wieder ins Doping rutschte. Man sehe den Langlauftross das ganze Jahr über "in kleinen Dörfern", man trainiere, bestreite gemeinsam Testwettkämpfe - "da muss man manche fast über die Ziellinie tragen, weil die so kaputt sind". Und zwei Wochen später: fliegen die gerade noch so Ermatteten einem Weltcupsieg entgegen. "Da entsteht irgendwo a Bild", sagt Dürr, "das unverrückbar ist." Ohne Stoff gehe es nicht, zumindest nicht bis nach oben. Am Ende entscheide jeder für sich, ob er dope, sagt Dürr, klar. Aber es ist eine Wahl, die keine ist, so sieht er das.

Als er sich damals entschieden hatte, sei Gerald Heigl auf ihn zugekommen. "Der Gerry", bis 2014 Cheftrainer der ÖSV-Langläufer und nun in Innsbruck mitangeklagt. Heigl habe ihn und auch seinen damaligen Teamkollegen Harald Wurm an Walter Mayer vermittelt - eine schon damals skandalumtoste Figur, von der noch die Rede sein wird, und die offenbar noch immer dick im Geschäft mit dem Blutdoping war. Aber Dürr fand die Versorgung abenteuerlich; Mayer habe das abgezapfte Blut teilweise nicht tiefgefroren und erst kurz vor dem Wettkampf zurückgeführt - zu spät offenbar, um den Sauerstofftransport anzukurbeln. Man habe eine neue Quelle gebraucht. Dürr stieß, auf Vermittlung seines Ex-Schwagers und Ex-Biathleten Daniel Taschler, auf Mark Schmidt, den Erfurter Sportmediziner. Ermittler hoben dessen Netzwerk vor einem Jahr rund um die Nordische Ski-WM in Seefeld aus, im Zuge der "Operation Aderlass". Dürr hatte zuvor bei der Staatsanwaltschaft ausgepackt.

Das Miteinander in der ÖSV-Langlaufsparte, erzählt Dürr nun, sei damals ein reges gewesen. Heigl habe die Trainingspläne geschrieben, Dürr ging zu Schmidt, der nahm ihm in Ruhephasen Blut ab. Danach habe Dürr das Training wieder mit Heigl abgestimmt - weil Blutdoping allein wenig bringe, sagt Dürr: "Das muss man ganz explizit trainieren", erst aus dem Training erwachse der größte Leistungsschub. Andere Teamkollegen seien nun auf ihn zugekommen; man habe sich bald gegenseitig zu den Blutabnahmen chauffiert, mal nahm der eine noch etwas Wachstumshormon für den anderen mit, je nachdem, wie es gerade passte.

Und ja, er habe in Slowenien auch einen Spezialkühlschrank besorgt. Weil Schmidt einen besseren für seine Blutbeutel brauchte. Den Kühlschrank habe er anschließend zu Wurm gebracht - aber nicht, weil Dürr oder Wurm Schmidts Geschäfte übernehmen wollten, sondern weil der deutsche Sportarzt offenbar sinnierte, seine Geschäfte stillzulegen. Und Dürr, der habe seine Quelle nicht versiegen lassen wollen.

4000 oder 6000 Einheiten Epo vom deutschen Teamarzt? Die Gegenleistung: "ein Paar Ski"

Das sei ihm enorm wichtig, sagt Dürrs Anwalt Christian Reiter in Innsbruck: dass Dürr zwar ein Täter sei, aber einer, der "aus dem System heraus" geboren wurde. Der Teil einer "verschworenen Gemeinschaft" war, die er 2019 dann entblößte. Kein Drahtzieher. Auch wenn in der Folge herauskam, dass Dürr heimlich weiter bei Schmidt gedopt hatte. Dabei hatte er sogar ein Buchprojekt angeschoben und öffentlich Geld eingesammelt für sein Comeback, ein nur angeblich sauberes.

Andererseits: Ohne Dürrs Aussagen säßen sie am Montag nicht da. Auch nicht Heigl, lange Jahre Trainer im ÖSV-Langlauf, der auch den ÖSV-Skirennfahrer Hannes Reichelt betreute, gegen den ein Dopingverfahren mittlerweile wieder eingestellt wurde. Heigl saß im Zuge der "Aderlass"-Ermittlungen in Untersuchungshaft, am Montag trägt er nun ein kariertes Hemd, die Schultern sind oft nach oben gezogen - und anders als Dürr gerät er schnell in die Defensive. Er wusste, dass Dürr und Wurm bei Mayer dopten, sagt er, und klar: Ihm sei bewusst, dass die Läufer dann schneller laufen - "sonst bist du im Rennen maximal Dreißigster". Aber er habe Athleten nie zu Mayer vermittelt, wie Dürr gesagt hat, "ich wär' gar nicht auf den Gedanken gekommen". Trainingspläne habe er auch nie aufs Doping abgestimmt.

Gerald Heigl, nun verurteilter ÖSV-Trainer. (Foto: imago images/Eibner Europa)

Richterin Martina Eberherr, die die Verhandlung ruhig und bestimmt führt, ist skeptisch. Sie weist Heigl auf die Vernehmung von Walter Mayer hin, den die Staatsanwaltschaft Innsbruck mittlerweile erneut angeklagt hat. Demnach habe Heigl damals zu Mayer gesagt, dass dessen Blutdoping-Praktiken "nicht ganz up to date" seien. Ob es vielleicht damit zusammenhänge, dass die ÖSV-Athleten irgendwann den Bluttankwart wechselten, von Mayer zu Mark Schmidt? Nein, da wisse er nichts zu, sagt Heigl, "ich hab' von Doping keine Ahnung gehabt". Er habe einen schweren Fehler begangen und den ÖSV 2017 auf eigenen Wunsch verlassen, weil er wusste, dass nach Dürr und Wurm nun auch Baldauf und Hauke in Schmidts Kundendatei standen. Das habe "nicht mehr zusammengepasst" mit seinem Gewissen.

Und noch einen Fehler habe er begangen: Wachstumshormon und Epo besorgt zu haben, letzteres bei einem deutschen Arzt. Dabei soll es sich um Ulrich Hägele handeln, der ab 2006 als Chef-Teamarzt Langlauf des ÖSV fungierte. Heigl bekräftigt in Innsbruck, was er schon in den Vernehmungen gesagt hatte: Im Januar 2014 habe er von dem Arzt zwischen 4000 und 6000 Einheiten Epo erhalten, Gegenleistung sei ein Paar Ski gewesen. Hägele war übrigens jener Teamarzt, der im ÖSV nach dem Blutdopingskandal von Turin aufräumen sollte, wie er erst im Herbst der SZ sagte. Damals sagte er auch: "Ich habe niemandem Dopingmittel gegeben, noch weniger habe ich welche verkauft!" Ermittler hatten kurz zuvor sein Haus durchsucht.

Nach der Mittagspause in Innsbruck ist der Altersschnitt des Publikums wieder höher: Die Handelsschüler aus Wörgl haben ihre Doppelstunde Doping schon hinter sich. Ob von ihnen künftig jemand wohl noch ein Sportevent organisieren möchte?

Im Saal ahnt man jetzt ein weiteres Systemproblem: dass manche noch dann ein Betrugsgeflecht schützen, wenn es auseinanderfällt. Dominik Baldauf und Max Hauke - Dürrs einstige Teamkollegen, mittlerweile zu Bewährungsstrafen verurteilt - bekräftigen, dass Dürr sie damals an den Erfurter Sportarzt vermittelte (was Dürr bestreitet). Ein weiterer Athlet sagt, Dürr habe ihm einmal sogar das Blut zurückgeführt, was der ebenfalls abstreitet - doch zu den Details befragt, kommen alle ins Schlingern. Baldauf und Hauke können nicht so recht erklären, warum sie im Vorfeld ihre Versionen mehrmals geändert hatten. Die Richterin sagt später, die Aussagen hätten darauf abgezielt, Dürr zu schaden und Heigl aus der Sache rauszuhalten. "Ich gehe davon aus", sagt sie zu Dürr, "dass beide sauer auf Sie sind." Baldauf und Hauke waren erst in Seefeld erwischt worden - Hauke mit der Kanüle im Arm.

Als Heigl und Dürr nach knapp zehn Stunden Verhandlung schuldig gesprochen werden, wirken beide trotzdem erleichtert. Dürr sei wegen schweren Sportbetrugs schuldig, sagt die Richterin, er habe auch zum Doping anderer beigetragen. Er habe aber "vollkommen und reumütig" gestanden. Und das alles - und dieser Vermerk ist durchaus bemerkenswert - in einem System, in dem ab der Jugend alles der Leistung untergeordnet sei, was den Athleten schnell in den Betrug schlittern lassen könne. Heigl rechnet sie ebenfalls dessen Geständnis an, der ehemalige Cheftrainer habe aber größere Schuld in diesem Geflecht auf sich geladen. Sie glaube auch nicht, dass er von seinen Sportlern zum mutmaßlichen Blutdoper Walter Mayer hingezogen wurde - und dass er, der ums Körpertuning seiner Athleten wusste, niemals deren Trainingspläne justierte.

Und so schnurrt am Ende in Innsbruck alles zusammen. Athleten, die nachhelfen, weil sie nur so mithalten und von Publikum, Sponsoren und Medien gefeiert werden. Trainer, die den Betrug abschirmen und abstimmen. Sportärzte, die mutmaßlich im Hintergrund wirken. Ein System, in dem jeder gewinnt, solange niemand einen Riss in die Schweigemauer zieht. Dürrs Anwalt verweist in Innsbruck auf einen Artikel in der Zeitung Die Presse: Die hatte nach der WM in Seefeld recherchiert, dass knapp zwei Drittel aller ÖSV-Langläufer, die seit 2003/04 Weltcup-Punkte holten, schon mal gesperrt oder wegen Falschaussagen überführt wurden. Der ÖSV-Trainer Radim Duda hatte schon im Dezember 2013 intern Alarm geschlagen: Er traute Dürrs Leistungssprüngen nicht, die der damalige Cheftrainer Heigl ignoriert habe - warum auch immer. Später, als Dürr in Sotschi mit Epo aufgeflogen war, äußerte Duda seine Zweifel öffentlich. Duda musste gehen, Heigl blieb.

Und doch wurde der Verband angeblich eiskalt von all den Doping-Fällen erwischt - Jahr, für Jahr, für Jahr?

Christian Horwath, Heigls Anwalt, steht am Montagabend vor dem Gerichtssaal und sagt: Es gebe ja diesen deutschen ÖSV-Arzt aus Rosenheim, der seinen Mandanten mit Stoff versorgt habe - da frage er sich schon: "Was haben die anderen Funktionäre vom ÖSV gewusst? Wir können jetzt nichts bestätigen, es gibt viele Gerüchte", aber er glaube, dass "prominente Zeugen" noch einiges zutage fördern könnten. Harald Wurm, Dürrs ehemaliger Zimmerkollege, steht ein Verfahren noch bevor, Walter Mayer ebenfalls. Jener Mayer, der tief in die Blutdopingskandale der Österreicher bei den Winterspielen 2002 und 2006 verwickelt war, der 2006 in Turin nach wilder Flucht in einer Straßensperre gestellt wurde, während ÖSV-Präsident Peter Schröcksnadel behauptete: "Austria is a too small country to make good doping." Am 19. Februar ist die neuerliche Verhandlung in Innsbruck anberaumt, Mayer soll Sportler bis 2019 weiter gedopt haben.

Günther Riess, der den ÖSV in Innsbruck vertritt, sagt auf Nachfrage, er wolle erst mal das schriftliche Urteil abwarten.

Dürrs Anwalt Christian Reiter steht am Montagabend ebenfalls vor dem Gerichtssaal. Er ist erleichtert, dass Dürr nicht ins Gefängnis muss - aber die Freude ist eher gedämpft. Dürr muss in den kommenden fünf Jahren 52 000 Euro an den Bund zurückzahlen, als Entschädigung für den Betrug. Er lässt sich derzeit zum Maschinenbauer ausbilden; er will einmal die Schmiede seines Vaters übernehmen, die Rückforderung wird ihn wohl in die Privatinsolvenz treiben. Er verzichtet trotzdem auf Rechtsmittel, wie auch Heigl.

Später stößt er gegenüber des Gerichts auf sein neues Leben an. In den Fenstern der Hotelbar hängen weiße Gardinen.

© SZ vom 29.01.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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