Nur noch anderthalb Wochen sind es bis zur Eröffnung der Winterspiele, spätestens jetzt ist der Moment gekommen, in dem der Weltsport gerne über die angeblich schönen Seiten seiner Veranstaltung sprechen würde. Über die spannenden Wettkämpfe, über Olympia als völkerverbindendes Fest, solche Dinge.
Stattdessen steht bei einem Blick auf die Winterspiele in Pyeongchang ein Thema mehr denn je im Fokus: Doping. Mit Beginn dieser Woche versetzte es den Weltsport gleich auf zwei Ebenen in Aufruhr. Einerseits, weil es neue Aussagen über die Rolle von Staatspräsident Wladimir Putin im russischen Manipulationsskandal und damit die Dimension der Affäre gibt. Und andererseits, weil die Welt-Anti-Doping-Agentur (Wada) einräumt, dass es bei den Behältern, in denen Dopingproben aufbewahrt werden, zu Problemen kommen kann und somit Zweifel an der Integrität des aktuellen Anti-Doping-Kampfes angebracht sind.
Die neuen Aussagen über Putins Rolle stammen von Grigorij Rodtschenkow, früher Chef des Moskauer Labors und inzwischen Kronzeuge für das Dopingsystem. In einem Interview mit ARD und Deutschlandfunk erklärte er eindeutig, dass Putin von dem System gewusst habe. "Es war ja eine ganz einfache Kette", erklärte er: Er selbst habe an den stellvertretenden Sportminister Jurij Nagornych berichtet, dieser an den Sportminister Witalij Mutko, dieser dann an Putin. "Putin wollte alles wissen", dieser könne es "nicht leugnen", dass er von den Plänen für die Vertuschungen gewusst habe. Und angesichts der Tatsache, dass auch der Geheimdienst FSB involviert war, führt Kronzeuge Rodtschenkow, der seit seiner Flucht in die USA aus Angst um sein Leben an einem geheimen Ort lebt, weiter aus: "Natürlich kam das von ganz oben, vom Präsidenten", denn nur der Präsident könne den FSB für eine solche spezifische Aufgabe "engagieren".
Das IOC vermeidet es auffallend, von einem "staatlichen" System zu sprechen
Diese Version bringt das IOC in die Bredouille. In den vergangenen Monaten war unter anderem durch Rodtschenkows Aussagen aufgezeigt worden, dass es in Russland über Jahre ein Doping- und Manipulationssystem gab. Mehr als 1000 Sportler sollen profitiert haben, mit Sportministerium, Geheimdienst und nationaler Anti-Doping-Agentur waren mehrere staatliche Stellen beteiligt. Das galt insbesondere für die Zeit der Sotschi-Spiele 2014, Putins Prestigeprojekt, das mit 13 Goldmedaillen endete. Und bei dem bei nächtlichen Aktionen belastete Urinproben gegen unbelastete ausgetauscht wurden.
Dennoch verzichtete das IOC, das mit Russlands Führung stets eng verbandelt war, auf strenge Strafen gegen das System. Es gab eine Sperre des russischen Olympia-Komitees für die Spiele in Pyeongchang, die aber sofort aufgeweicht wurde: Zur Schlussfeier kann Russland wieder Teil der olympischen Familie sein - und 169 Sportler dürfen als "Olympische Athleten aus Russland" starten.
Zudem war auffällig, wie das IOC stets vermied, das festgestellte System als "staatlich" zu deklarieren. Und ausdrücklich wurde festgehalten, es gebe keine Beweise für Beteiligung oder Mitwissen staatlicher Stellen oberhalb des Sportministeriums. Putin nahm das dankend an: "Es war wichtig, dass die Ergebnisse der Kommission belegen, dass es niemals ein staatlich unterstütztes Dopingsystem gegeben hat", sagte er. Staatsdoping bestritt er stets, Rodtschenkow bezeichnete der Kreml als unglaubwürdigen Verräter.
Pikanterweise stufte das IOC in den vergangenen Monaten Rodtschenkow jedoch als einen glaubwürdigen Zeugen ein, wenn es darum ging, einzelne russische Athleten als angebliche Mittäter lebenslang zu sperren und so Strenge zu simulieren. Und plausibel klingt auch Rodtschenkows neue Darstellung. Denn es erscheint doch sehr unrealistisch, dass einzelne Mitarbeiter aus Sportministerium und Geheimdienst solch ein Betrugsprojekt durchziehen, ohne dass es jemand mitbekommt. Jetzt ist die Frage, ob das IOC Rodtschenkow auch als so glaubwürdig einstuft, wenn es um dessen Aussagen über Putin geht.
Damit nicht genug, muss sich das IOC nun auch mit einer womöglich gravierenden Sicherheitslücke im Anti-Doping-System befassen. Es geht um jene Behälter, in denen Dopingproben aufbewahrt und die versiegelt an die jeweiligen Laboren verschickt werden, wo sie auf verbotene Substanzen untersucht werden sollen. Als Konsequenz aus der Russland-Affäre, in der die Betrüger dank geheimdienstlicher Hilfe eine Methode entdeckt hatten, mit der sich die Flaschen unbemerkt öffnen und wieder verschließen lassen, waren in den vergangenen Monaten neue Modelle entwickelt worden. Doch nun müssen die Anti-Doping-Agenturen einräumen, dass auch diese manipulationsanfällig ist - und das vergleichsweise leicht.
Am 19. Januar teilte das Kölner Labor der Wada mit, dass die Flaschen nach dem Einfrieren einer Probe manuell geöffnet werden könnten. Journalisten war dies bei Recherchen für einen ARD-Film gelungen. Die Wada machte aber erst am Sonntag, neun Tage später und kurz vor der avisierten Ausstrahlung des Beitrages, öffentlich, dass es eine Untersuchung wegen "möglicher Integritätsprobleme" gebe.
Nun ist die Verunsicherung groß. Die neuen Flaschen sind seit Herbst 2017 im Einsatz. Zwar nicht bei jedem Test, aber doch bei den meisten. Allein in Deutschland kam es seitdem zu rund 4000 Proben; das IOC verwies noch kürzlich stolz auf 14 000 vorolympische Tests. Die Korrektheit all dieser Proben steht nun in Zweifel. Das IOC gab sich nur zurückhaltend: "Wir sind zuversichtlich, dass die Wada alle Fragen vollständig angehen wird", teilte es mit. Die Firma Berlinger, die die Flaschen herstellt, antwortete auf eine SZ-Anfrage nicht; die Wada zitierte sie aber mit dem Hinweis, es gebe keine Probleme bei richtiger Bedienung. Die Wada betonte, "bei Bedarf die geeigneten Maßnahmen zu empfehlen, um die Integrität des Dopingkontrollprozesses aufrecht zu erhalten".
Wie das gehen soll bis zum Spiele-Start? Das Kontrollsystem bei den Spielen 2014 war eine Farce. Nun könnte es auch bei den Spielen 2018 wieder eine Farce sein, wenn auch aus anderen Gründen.