Doping in Russland:Entlarvt im eigenen Sumpf

Doping in Russland: Zum Schreien gut: Maria Sawinowa gewann den 800-Meter-Lauf in London - mit unlauteren Mitteln.

Zum Schreien gut: Maria Sawinowa gewann den 800-Meter-Lauf in London - mit unlauteren Mitteln.

(Foto: AP)

Ein Film und seine Folgen: Die ARD-Doku über Doping in Russland bringt die Sportwelt ins Wackeln. Sie enttarnt nicht nur Athleten und Funktionäre, sondern auch Labore, Kontrolleure und vermeintliche Anti-Doping-Experten. Wer betreibt nun die Aufklärung?

Von Thomas Kistner

Der Weltsport hält die Luft an eingedenk jüngster Enthüllungen der ARD über ein endemisches Dopingsystem im russischen Sport, das die Politik und die Kontrollinstanzen mit einschließt. Der dabei selbst schwer unter Beschuss geratene Leichtathletik-Weltverband IAAF aber reagiert so, wie es von Sportfunktionären erwartet werden darf: Er will die Sperre der Marathonläuferin Lilija Schobuchowa von zwei auf vier Jahre verlängern lassen.

Das teilte der Sportgerichtshof Cas unter Hinweis auf einen entsprechenden IAAF-Antrag mit. Der übliche Umgang also im Industriegewerbe Spitzensport mit Kronzeugen, die schwerste Missstände im System anprangern: Schobuchowa hatte, wie zahlreiche andere russische Spitzenathleten, über Doping und Vertuschungspraktiken in ihrem Land ausgepackt.

Ins Bild passen die Reaktionen anderer Verbände. Das Internationale Olympische Komitee (IOC), das ja nächste Woche neue Transparenz im Zuge einer Selbstreform unter Präsident Thomas Bach implementieren will, will "nicht zögern, alle nötigen Schritte zu unternehmen" - und verweist darauf, dass seine Ethikkommission mit den IAAF-Kollegen in Kontakt sei. Neuerdings hat ja auch die IAAF eine Ethikkommission, 2013 ist sie geräuschlos eingesetzt worden.

Blickt man auf das sechsköpfige Gremium, stechen neben einem Briten, einem Finnen und einem Buchprüfer aus Japan drei weitere Ethikexperten heraus: Carlos Nuzman, langjähriges IOC-Mitglied und führender Skandalfunktionär in seiner Heimat Brasilien, die sich auf die Sommerspiele 2016 vorbereitet. Nuzman, der an den Quellen der nationalen Sportlotterie sitzt, wurde schon ein Kontrolleur vor die Nase gesetzt; Schlagzeilen machte auch, dass ihm Dilma Rousseff jede Audienz verwehrte. Als er die Staatschefin letztmals traf, soll Nuzman sogar geheult haben: Rousseff hatte den Chef-Olympier in gebotener Schärfe auf diverse Korruptionsdelikte angesprochen.

Im IOC ist Nuzman ebenso Ehrenmitglied wie sein IAAF-Mit-Ethiker Kevan Gosper. Der ließ anno 2000, kurz vor den Spielen in seiner Heimat Sydney, sein elfjähriges Töchterlein im antiken Olympia als erste Australierin mit der olympischen Flamme laufen; in die Röhre schaute eine für die Zeremonie vorgesehene griechisch-stämmige Schülerin aus Sydney. 2008 in Peking war Gosper Chef der IOC-Pressekommission, die sich der Internet-Zensur der Chinesen beugte.

Dubiose Geflechte wie im Fußball

Zu den IAAF-Ethikern zählt weiter Tafsir Malick Ndiaye aus Senegal, Jurist und Landsmann des allmächtigen IAAF-Präsidenten Lamine Diack, der in 15 Herrschaftsjahren ein branchenübliches Netzwerk um sich gebastelt hat: Sohn Papa Diack verhandelt im Auftrag der IAAF mit Geldgebern und streicht für die Geschäfte Provisionen ein. Gerade erst bestätigte IAAF-Council-Mitglied Helmut Digel, dass der Präsidentenfilius "beste Beziehungen zu Russland, nach China und Korea" habe. Am Donnerstag teilte die IAAF mit, sie habe ihren Ethikern jetzt mal eine englische Version des ARD-Films zukommen lassen.

Der Sport verhandelt also wieder seine Systemprobleme: Was das heißt, ist derzeit bei den amüsanten Selbstuntersuchungen des Fußball-Weltverbandes Fifa zu erleben. Im Fall des russischen Doping-Systems, das die ARD mit klaren Belegen in Bild, Ton und Schrift dokumentiert, geht es nun aber um mehr als neue Dopingfälle, auch um mehr als das heimlich gefilmte Geständnis der 800-Meter-Olympiasiegerin von London, Maria Sawinowa: Es geht ums Ganze.

Erstmals wird die vermeintlich andere Seite des Weltsport-Pharmaszenarios massiv erschüttert: sogenannte Anti-Doping-Experten, Labore - und die Fahnder selbst. Weil diese Vorwürfe, erhoben unter anderem von einem Mitarbeiter der russischen Anti-Doping-Agentur Rusada, seit Jahren auch in anderen Sportarten und Ländern kursieren, auch im Westen, droht die sorgfältig konstruierte Selbstkontrollsystematik des globalen Sports am Ende einer wahrhaft schonungslosen Aufklärung zu kollabieren. Sehr zurückhaltend wirken insofern die ersten Statements der Institutionen.

Die Rusada spricht von unbewiesenen Behauptungen; die IAAF baut auf ihre Ethiker, statt dass sie ihren einflussreichen Schatzmeister an die Kandare nimmt: Walentin Balachnitschew, Präsident der russischen Leichtathleten und im ARD-Film massiv einer Mitwisserschaft verdächtigt, die für jeden Betrachter mit Realitätssinn auf der Hand liegt. Gehört so ein Mann nicht wenigstens suspendiert - schon, damit er auf die laufenden, von der Verbandsspitze gesteuerten Prozesse nicht einwirken kann?

Balachnitschew taucht ja auch in Zusammenhang mit Zahlungen der Marathonläuferin Schobuchowa auf, die gut dokumentieren kann, dass sie auf Geheiß von Verbandsleuten insgesamt 450 000 Euro bezahlte, damit sie trotz ihrer seit vielen Jahren auffälligen Blutwerte bei den London-Spielen starten durfte. Sie lief. Als sie dann im April 2014 doch vom Verband gesperrt wurde, verlangte sie ihr Geld zurück - und erhielt 300 000 Euro, von einer Strohfirma in Singapur. Dass Balachnitschews Nationalverband nun auf Verdoppelung ihrer Sperre drängt, statt dass der Herr über die IAAF-Gelder vorläufig aus dem Verkehr gezogen wird - das ist eine Absurdität, die wohl nur im Sport selbstverständlich ist.

Auch die Welt-Anti-Doping-Agentur Wada, die von all den merkwürdigen Werten offenbar nie etwas mitbekam, reagiert verhalten. Das straff an den Strippen des Sports hängende Gremium, präsidiert vom britischen IOC-Mann Craig Reedie, teilte mit, dass es bereits Belastungsmaterial wie das vorliegende an "die unabhängigen Instanzen der IAAF weitergeleitet" habe. Gibt es einen originelleren Weg, eine glaubwürdige Untersuchung zu gewährleisten? Das IOC lässt wissen, Bach habe den Kollegen Reedie gebeten, ihn voll informiert zu halten. Da kann wohl nicht mehr viel schiefgehen. Zumindest, was die Sanktionierung involvierter Athleten angeht.

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