Doping in den Siebziger Jahren:Frischluft im Gesäß

DDR-Staatsdoping als Vorbild: Auch im Westen kamen in den Siebziger Jahren bizarre Praktiken zur Anwendung. Für Olympia 1976 wurden westdeutsche Schwimmer auf unappetitliche Art aufgeblasen. Ein Gummiproduzent soll dem DSV eine Art Stöpsel-Lösung angeboten haben.

Boris Herrmann, Berlin

Schwimmen Menschen besser und schneller, wenn man ihnen Luft in den Dickdarm bläst? Die Historiker sind sich da noch nicht ganz einig. Aufschluss über diese sportwissenschaftlich nicht ganz uninteressante Frage könnte vermutlich der Deutsche-Schwimmverband (DSV) geben - respektive dessen Archiv.

Olympia 1976: Klaus Steinbach Vorlauf-Sieger

Aufgeblasen? Der bundesdeutsche Freistilschwimmer Klaus Steinbach 1976 in Montreal.

(Foto: picture-alliance/ dpa)

Es ist in jedem Fall aktenkundig, dass die westdeutschen Schwimmer bei den Olympischen Spielen 1976 in Montreal mit aufgeblasenen Eingeweiden antreten sollten. Ob die sogenannte "Aktion Luftklistier" - eine der unappetitlichsten Aktionen der westdeutschen Sportgeschichte - aber tatsächlich zur vollen Zufriedenheit aller maßgeblichen Stellen funktioniert hat, wer alles beteiligt war und wie es, nun ja, technisch genau funktionierte, das weiß wohl nur der DSV. Und der würde es gerne für sich behalten.

Die Forschungsgruppen der Historiker Giselher Spitzer (Berlin) und Michael Krüger (Münster) haben in diesen Tagen eine heftig diskutierte Studie zum organisierten Sportbetrug im Deutschland der Siebziger vorgestellt. Sie haben im Rahmen ihrer Forschungsarbeit unter anderem wegen der "Aktion Luftklistier" bei der Schwimmverbands-Präsidentin Christa Thiel einen Zugang zum DSV-Archiv beantragt. Thiel ist als Vizepräsidentin des Deutschen Olympischen Sportbundes formell sogar eine der Auftraggeberinnen der Studie, die der DOSB angeblich mit großem Erkenntnisinteresse verfolgt. Der Antrag auf Einblick ins DSV-Archiv wurde trotzdem abgelehnt.

Es gibt formell keinen Osten und Westen mehr im vereinten Deutschland. Und doch hat man das Gefühl, dass der Westen gerade zu retten versucht, was von seinem moralischen Vorsprung gegenüber dem Osten übrig ist. Und auch wenn die Luftdusche von Montreal eine Geschichte aus einer vergangenen Zeit sein mag, sie ist bis heute nicht aufgearbeitet.

Die Studien von Spitzer und Krüger haben eine historische Wahrheit mit Belegen unterfüttert: Gegen Doping hatte der organisierte Sport im Westen wenig einzuwenden, wohl aber gegen Dopingfälle. Das DDR-Staatsdoping diente auf dem Höhepunkt des Kalten Sportkrieges zwischen 1972 und 1976 weniger als Abschreckung denn als Vorbild und Ansporn. Da Anabolika, der beliebteste Fitmacher jener Tage, in der Bundesrepublik aber offiziell geächtet war, suchte man (neben kreativen Möglichkeiten, es trotzdem zu verabreichen), nach "unbelasteten" Alternativen zur Leistungssteigerung.

Alles gemäß den Regeln

Im Juni 1976, vier Wochen vor Beginn der Spiele in Montreal, beantragte der DSV beim Bundesinnenministerium 250 000 D-Mark für eine kreative Lösung zur Leistungssteigerung. Dem Antrag wurde ohne weitere Prüfung stattgegeben. Die DDR-Schwimmer hatten in den vorangegangenen zwei Wochen nicht weniger als 17 Weltrekorde aufgestellt.

"Tragikomische Art von Manipulation"

Man sah sich deshalb zur Luftmast verpflichtet. Wie die Recherchen der Historiker belegen, hat das BMI dem Schwimmverband in dieser Sache praktisch einen Blankoscheck erteilt - unter drei Bedingungen: die Methode dürfe nicht auf der Dopingliste stehen, sie dürfe nicht gesundheitsschädlich sein und sie müsse leistungssteigernd wirken.

Den dritten Punkt hat der DSV an seinen Athleten (darunter der spätere NOK-Präsident Klaus Steinbach) im Trainingslager in Calgary erprobt. Ergebnis: Es funktioniert. Aufgepumpte Schwimmer liegen tatsächlich besser im Wasser. Der Freiburger Sportarzt Joseph Keul zerstreute gesundheitliche Bedenken, während der als Antidoping-Papst bekannte Manfred Donike aus Münster bestätigte, dass etwas Frischluft im Gesäß nicht den geltenden Dopingregeln zuwiderlaufe.

Es haben also alle kräftig zusammengearbeitet im Dienst der großen Sache: der organisierte Sport, die Wissenschaft, die Politik. Und als der "Geheimplan Luftklistier" Monate später doch heraus kam, wurde der kollektive Versuch unternommen, das Ganze zur heiteren Posse herunter zu spielen. Der damalige NOK-Präsident Willi Daume sprach in einem SZ-Interview 1977 von einer "tragikomischen Art von Manipulation", er verglich sie mit Schwimmern, die "teilweise ihren ganzen Kopf kahlrasieren".

So gut wie im Trainingslager hat das Luftdoping dann im olympischen Ernstfall übrigens nicht geklappt, "nicht zuletzt wegen mangelnder technischer Voraussetzungen", wie aus einem Briefwechsel zwischen DSV und BMI hervorgeht. Weil es im Schwimmstadion von Montreal keinen geeigneten Raum gab, mussten die Athleten bereits im olympischen Dorf aufgepumpt werden. Man könnte das technische Problem auch so beschreiben: Die Luft ist den Schwimmern auf dem Weg zum Startblock entwichen.

Ein deutscher Gummiproduzent soll dem DSV daraufhin eine Art Stöpsel-Lösung angeboten und sich als Ausrüster der Topathleten ins Spiel gebracht haben. Immerhin in diesem Fall haben die Schwimmfunktionäre aber gesunden Verstand bewiesen. Sie haben dieses Schreiben als Scherz erkannt und zu den Akten gelegt.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: