Wenn Witali Stepanow über Skype mit der Außenwelt kommuniziert, ist die Wand hinter ihm weiß und kahl. Irgendwo in Amerika lebt er mit Ehefrau Julia und Kind; in den letzten Monaten, sagt Witali, sei kein Umzug nötig gewesen. "Wir fühlen uns einigermaßen sicher", sagt der Whistleblower, der einst für die russische Anti-Doping-Agentur Rusada gearbeitet hatte und mit Enthüllungen zu einem offenbar staatlich orchestrierten Betrugssystem in der Heimat eine Lawine lostrat, die nun die gesamte olympische Welt überrollt. "Und wir haben einen neuen Teamkollegen", sagt er, in Anspielung auf Grigori Rodtschenkow.
Rodtschenkow, der langjährige Chef des Moskauer Dopinglabors, ist gleichfalls aus Russland in die USA geflüchtet und bereichert mit seiner Beichte, wie in Sotschi 2014 mit geheimdienstlicher Infamie die Positivproben russischer Medaillengewinner nachts gegen vorgefertigte negative umgetauscht worden seien, die olympische Historie um ein neues Schmutzkapitel. In der vergangenen Woche kam die Geschichte ans Licht. Am Dienstag folgte diese Nachricht: Von den 31 namentlich bislang nicht bekannten Sportlern, die soeben in Nachtests der Proben von den Peking-Spielen 2008 des Dopings überführt wurden, stammen 14 aus - Russland. Fast jeder zweite.
Und nun steckt das Internationale Olympische Komitee (IOC) endgültig tief in der Bredouille. Es versucht, anstehende Entscheidungen auf Untereinheiten wie die Welt-Anti-Doping-Agentur Wada oder Fachverbände wie die Leichtathletik-Weltfederation IAAF abzuwälzen. Dabei liegt es letztlich in den Händen des mächtigen IOC, ob die Russen komplett, ohne Leichtathleten oder gar nicht zu den Spielen in Rio de Janeiro reisen.
Aber der deutsche IOC-Boss Thomas Bach zieht lieber im Hintergrund die Strippen, als sich in so einer zentralen Frage klar zu positionieren. Öffentlich mimt er den erschütterten Mahner und strapaziert die übliche Krisenrhetorik: "Null-Toleranz" mit Dopern. Zuletzt sogar, anlässlich des zehnjährigen Bestehens des deutschen Dachverbands DOSB, von der Kanzel der Frankfurter Paulskirche herab.
In der Realität schert sich niemand einen Deut um Leute wie die Stepanows
Wie sieht es also aus mit Bachs Null-Toleranz? Wie geht das IOC mit Whistleblowern um, die ja eindeutig dabei helfen, den bösen Betrug offenzulegen?
Es gibt keine Verbindung zum IOC, sagt Stepanow. Einmal habe er eine Viertelstunde mit Richard Budgett geskypt, dem IOC-Medizindirektor. "Ich glaube, er wollte sehen, wer wir sind", sagt Stepanow. Mehr kam da nicht. Das erscheint seltsam - will Bach Whistleblower nicht angeblich ermutigen, Betrüger zu outen?
Stepanow, der vielleicht größte Whistleblower der Sportgeschichte, macht in der Praxis eine andere Erfahrung. Auch wenn er weiter hofft, dass ein Funken Gehalt in den frommen Reden ist. "Die Funktionäre sagen, sie wollen Doping stoppen, und ich habe gesehen, dass das IOC eine Ethikkommission hat. Die müsste doch interessiert sein, uns kennenzulernen und etwas über unsere Motivation zu erfahren." Aber auch diese Leute seien auf Distanz. Stepanow sagt: "Ich bin enttäuscht von der Ethikkommission."
Das erlebt einer, der denkt, die priesterlichen Manager des Ringe-Konzerns meinten das tatsächlich ernst, was sie erzählen. In der Realität schert sich niemand einen Deut um Leute wie die Stepanows. Was nach außen Whistleblower heißt, heißt sportintern: Nestbeschmutzer. Die Stepanows haben Olympias Kommerzbetrieb in eine Schieflage gebracht, deren ökonomische Auswirkung noch nicht abzusehen ist - sie hängt ja auch davon ab, wie lange das Publikum noch der Mär vom sauberen Hightech-Sport auf den Leim zu gehen gewillt ist.
Dass Leute wie die Stepanows möglichst geräuschlos ausgegrenzt werden, erscheint unverzichtbar für die olympische Geschäftsstrategie. Im Januar 2015 endete die Sperre von Julia Stepanowa. Die Läuferin hatte Teil am russischen Dopingsystem, auch deshalb konnte sie so detailliert berichten. Sie hat ihre Strafe verbüßt, sie hat trotz ihrer Kooperation keine Verkürzung erhalten und auch keine gewünscht. Aber starten darf sie bis heute nicht. Fast jeder andere Doper, der seine Sperre abgebrummt hat, ist wieder auf der Piste. Oft, ohne den eigenen Betrug eingeräumt zu haben.
Aber die Frau, die ausgepackt hat und mit ihrer Familie abtauchen musste, aus Angst vor der Rache des Sports - sie darf nicht laufen. Während Bach, der Wirtschaftsadvokat auf dem Olymp, von jeder Kanzel, vor jeder Kamera über diese Dingens da fachsimpelt, diese Null-Toleranz, die ihm so arg am Herzen liegt.
Drei Tage, nachdem die Stepanows (im Irrglauben, dem Sport zu helfen) der olympischen Welt den nächsten Tiefschlag versetzt und in der US-Sendung "60 Minutes" neue Enthüllungen präsentiert hatten, bat sie das Exekutivkomitee der Wada zum Gespräch. Wieder per Skype durfte Witali rund 25 Minuten, wie er sagt, mit Wada-Präsident Craig Reedie und Kollegen parlieren. Thema seien die "Erfahrungen mit dem Whistleblower- System" gewesen. Was für ein Witz.
Reedie ist ein alter olympischer Fahrensmann, IOC-Vorstand - nichts in seiner Vita weist ihn als engagierten Betrugsbekämpfer aus. Stattdessen zeigen Mails, wie er die Russen im April 2015 nach den ersten Enthüllungen zu beruhigen versuchte. Man kann es auch so sagen: Reedie ist in diesen heiklen Zeiten der ideale Mann an der Wada-Spitze. Er hält den schönen Schein aufrecht.
Simulation von Gesprächen
Wie hat ihn Stepanow erlebt? "Reedie sagte die paar Worte, die ein Präsident in so einem Fall sagen muss." Ansonsten sei das Gespräch fruchtlos gewesen. Stepanow hatte ihm gesagt: "Die Realität, die wir als Whistleblower zum Thema erleben, sieht so aus, dass Julia für das Whistleblowing sogar sanktioniert wird - indem sie nun schon seit sechs Monaten nicht starten darf." Was sagten Reedie und seine Kollegen? "Sie hörten zu."
Sie hätten ihm bestätigt, dass sie "Briefe in Julias Sinne an das IOC und die IAAF geschickt haben". Offenbar gab es keine Reaktion; zumindest keine positive.
Ist das Bachs Null-Toleranz?
Die Gespräche mit Wada und IOC, die wohl eher Gesprächs-Simulationen waren, dienen offenbar einem typischen sportpolitischen Kniff: Man spricht kurz übers Wetter, kann dann aber öffentlich so tun, als sei man "im Gespräch". Als kümmere man sich.
Den Rest soll die IAAF unter ihrem angeknockten Chef Sebastian Coe richten, sie wird den Fall regeln müssen. Julia Stepanowa - der Frau, die für ein Großreinemachen im Sport ihre Existenz und die ihrer Familie aufs Spiel gesetzt hat - wird wahrscheinlich das Startrecht verweigert werden, für so etwas findet der Sport immer einen Paragrafen. Und das IOC wird sich dann hinter dem Beschluss einer Instanz verstecken, die nur ein Vasall ist.
Ginge Stepanowa in Rio an den Start - womöglich auch noch unter olympischer Flagge, denn die russische wird ihr Wladimir Putin, ein Freund Bachs, wohl kaum zugestehen - was sollte die Jugend der Welt davon halten? Welche Fragen würde sie stellen? Nein, das kann das IOC Julia Stepanowa gar nicht gestatten.
Die Wada unter IOC-Mann Reedie hat übrigens dem suspendierten Moskauer Labor soeben wieder gestattet, Blutproben zu untersuchen.
Nulltoleranter geht's nicht.