Doping bei Turnerinnen:Erst kleinhalten, dann strecken

  • Ehemalige Sportmediziner in der DDR sollen Turnerinnen im Teenageralter durch die Vergabe von Anabolika zunächst klein gehalten und sie nach Karriereende mit einem Wachstumshormon wieder gestreckt haben, berichtet der Spiegel.
  • Das ehemalige Turntalent Heike M. hat heute zahlreiche Krankheiten und klagt vor dem Sozialgericht in Cottbus auf die Anerkennung einer Schwerbehinderung.

In der DDR ist das Wachstum von Turnerinnen offenbar gezielt manipuliert worden - während und nach der Karriere. Der Heidelberger Molekularbiologe und Dopingexperte Werner Franke hat bei der Staatsanwaltschaft in Berlin deshalb wegen des Verdachts auf Körperverletzung Anzeige gestellt. Sie richtet sich gegen ehemalige Sportmediziner, die in der DDR wirkten. Sie sollen, so berichtet es der Spiegel, Turnerinnen im Teenageralter durch die Vergabe von Anabolika zunächst klein gehalten und sie nach Karriereende mit einem Wachstumshormon wieder gestreckt haben.

Der 75 Jahre alte Franke bestätigte den Bericht am Sonntag. "Es ist eine neue Dimension des Dopings, um die es hier geht. Es handelt sich nicht mehr nur um Doping während der sportlichen Laufbahn, sondern um Menschenveränderungen vor und nach der Karriere", sagte er der Deutschen Presse-Agentur.

Frankes Wissen fußt auf der Krankengeschichte des ehemaligen Turntalents Heike M. aus Berlin. Die heute 52 Jahre alte Lehrerin hat zahlreiche Krankheiten und klagt vor dem Sozialgericht in Cottbus auf die Anerkennung einer Schwerbehinderung. Franke wurde als Gutachter eingeschaltet. Er konnte somit Krankenunterlagen auswerten, die bis in die DDR-Zeit zurückreichten. In ihnen fand er Belege, die die Skrupellosigkeit der einstigen Sportführer erneut unterstreichen.

M., die ihren vollen Namen in der Öffentlichkeit wegen ihrer aktuellen Tätigkeit nicht genannt haben möchte, war einst Schülermeisterin der DDR am Boden. Sie galt als Kandidatin für die Teilnahme an den Olympischen Spielen 1980 in Moskau. Damals bekamen viele DDR-Sportler Anabolika verabreicht. Bei den Gewichthebern und den Leichtathleten wurden diese eingesetzt, um die Muskelkraft zu steigern. Sie kamen aber auch beim Schwimmen, Eiskunstlaufen und Turnen zum Einsatz. Dort ging es darum, die Regenerationsfähigkeit zu verbessern. Die Talente sollten noch intensiver trainieren können.

Für die Anabolika gab es keine klinische Zulassung

Im Spitzensport wurde dabei ein spezielles Präparat verwendet, für das es keine klinische Zulassung gab: Mestanolon - auch bekannt unter der Bezeichnung STS 646 - aus dem VEB Jenapharm. Es hatte einen Vorteil: Die Einnahme war mit einer vergleichsweise geringen Zunahme von Körpermasse verbunden. Bei jungen Sportlern hatte das Mittel eine weitere, gravierende Nebenwirkung, auf die bei den Turnerinnen offenbar bewusst gezielt wurde: Vor der Pubertät verabreicht, tragen die anabolen Steroide dazu bei, dass sich die Wachstumsfugen am Ende der Röhrenknochen schließen. Das Längenwachstum wird gebremst. Sprich: Die Sportlerinnen bleiben klein.

Der Effekt war bekannt. Der Spiegel zitiert aus einem Beipackzettel, den Jenapharm nach dem Ende der DDR seinem berüchtigten Anabolikum Oral-Turinabol beilegte: "Bei Kindern sind beschleunigte Sexual- und Knochenreifung sowie vorzeitiger Wachstumsabschluss zu beobachten", heißt es dort.

Wachstumspräparat aus Leichen gewonnen

Kleine Turnerinnen haben einen Vorteil: Sie tun sich leichter, die immer gewagteren Schrauben und Salti zu vollenden, die nötig sind, um international zu reüssieren. Aus der Datenbank sports-reference.com lässt sich rekonstruieren, dass die durchschnittliche Größe der Medaillengewinnerinnen im Turnen bei Olympischen Spielen seit 1976 nicht mehr über 160 Zentimeter lag. Den Trend zu kleinwüchsigen Leistungsturnerinnen - es gab ihn keineswegs nur damals in der DDR. Dem Spiegel liegt die Studie einer Fachzeitschrift für Kinderheilkunde in den USA vor, die 1998 zu dem Schluss kam, dass die Einnahme von anabolen Steroiden vor allem unter jungen Turnern verbreitet sei, weil die glaubten, "eine geringe Körpergröße bringt im Turnen Vorteile".

Heike M. wusste damals nicht, was ihr verabreicht wurde. Sie dachte, sie schlucke Vitamine. Als Teenagerin trainierte sie jede Woche an sechs Tagen, das Pensum umfasste sieben Stunden. Nach ihren Angaben war sie ab der siebten Klasse "an keinem Tag mehr schmerzfrei". Die Ärzte hätten ihr viele Spritzen gesetzt, selbst während der Wettkämpfe sei dies üblich gewesen. Im Alter von 16 Jahren beendete sie im Juli 1979 ihre Karriere. Damals war sie 1,53 Meter groß. Innerhalb eines Jahres wuchs sie dann um zehn Zentimeter.

Gesundheits-Risiko: Schwere Demenz und Tod

Den Grund für den späten Wachstumsschub will Werner Franke nun in den Krankenakten ausgemacht haben. Nach ihrem Karriereende war M. zur Rehabilitation in eine Spezialklinik für DDR-Spitzensportler in Kreischa geschickt worden. Dort soll sie mindestens sechs Wochen lang das Wachstumspräparat Sotropin H erhalten haben.

Das Somatropin-Präparat wurde damals vom VEB Arzneimittelwerk Dresden hergestellt. Es wurde aus Hirnanhangdrüsen von Leichen gewonnen - ein moralisch fragwürdiges und medizinisch völlig unverantwortliches Vorgehen: Auf diesem Weg kann die Creutzfeldt-Jakob-Krankheit übertragen werden, die zu schwerer Demenz und zum Tod führt. Im Zuge seiner Recherchen in dem Fall, so der Spiegel, hätten alteingesessene Pathologen in den neuen Bundesländern Franke wissen lassen, dass sie sich damals gewundert hätten, warum ihre Präparatoren den Leichen immer die Hirnanhangdrüsen entnehmen und behalten wollten.

Bei den Olympischen Spielen 1980 in Moskau, die von vielen westlichen Ländern boykottiert wurden, gewann die DDR wie vier Jahre zuvor in Montréal und acht Jahre später in Seoul die zweitmeisten Medaillen. Maxi Gnauck triumphierte am Stufenbarren, die Frauen-Riege holte hinter der aus der Sowjetunion und der aus Rumänien Bronze. Gnauck wurde daraufhin von den Lesern der Tageszeitung Junge Welt zur "Sportlerin des Jahres" gewählt.

Heike M. ist nicht die einzige aus jener Generation, die gesundheitliche Probleme hat. Der Doping-Opfer-Hilfe-Verein steht mit acht ehemaligen Turnerinnen in Kontakt. Ines Geipel, die Vorsitzende des Berliner Vereins, sagt im Spiegel, der "Sotropin-Fall von Heike M. ist ein schweres Verbrechen und verwerflich".

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: