Süddeutsche Zeitung

Doping:Dem IOC geht es allein um Skandalvermeidung

Statt gründlich zu ermitteln, spricht das IOC fragwürdige Unschuldserklärungen für Jamaikas Sprinter aus. Es gilt, eine wertvolle Illusion zu bewahren.

Kommentar von Thomas Kistner

Zu den großen Mysterien des Spitzensports zählt die Frage, warum Topkräfte der Humangenetik noch immer keine Forschungsbasis auf Jamaika unterhalten. Die Karibikinsel beherbergt bloß 2,7 Millionen Menschen, 0,04 Prozent der Erdbevölkerung, aber die stellen etwa die Hälfte der schnellsten männlichen und weiblichen Geschöpfe dieses Planeten. Wo, wenn nicht hier, wäre eine gewaltige Feldstudie angesagt - zur Erhellung der einmaligen Beschaffenheit jamaikanischer Muskelfasern?

Und nun dies: Bei Mitgliedern des jamaikanischen Teams wurde per Nachtests zu Olympia 2008 der Dopingstoff Clenbuterol gefunden. Offenkundig wurde die Sache vertuscht. Auch wenn das Internationale Olympische Komitee jetzt, in der Erklärungsnot, erzählt, es habe auch Fälle bei anderen Nationen gegeben: Alle seien unschuldig. Unschuldig? Ohne Ermittlung? Per ordre du mufti?

Diese Erzählung hakt überall. Warum gab das IOC 2016 nicht selbst bekannt, dass Nachtests zu Peking eine so enorme Fleischkontaminierung ergeben hätten, trotz all der Vorkehrungen damals? Warum sagt es nicht, wie viele Athleten und Länder es betrifft? Aus Datenschutzgründen! Das zielt ins Leere. Es geht zunächst gar nicht um Namen. Nur um Zahlen. Das Schweigen nährt die Verdachtslage. Sind die vom IOC behaupteten Fälle außerhalb Jamaikas viele - oder ganz wenige? Wenn es auch Befunde in anderen Ländern gibt, warum sprach Wada-Generaldirektor Olivier Niggli explizit von "jamaikanischen Fällen" mit geringen Mengen - statt von einem generellen Clenbuterolproblem in Peking? So wird es nun dargestellt. Bei alledem spricht das IOC selbst nur von der Möglichkeit, dass ein Fleischproblem vorliege. Umso mehr muss es die Aussage des Ex-Dopinghändlers und FBI-Informanten Angel Heredia überprüfen, der erklärt hat, Trainer aus Jamaika hätten sich bei ihm vor Peking über Clenbuterol informiert.

Doping in Jamaika verfolgen? Wäre merkantiler Selbstmord

Legt das IOC nicht schlüssig dar, auf welche Fakten sich seine Unschuldserklärung für die Betroffenen stützt, bewegt sich die Affäre auf Augenhöhe mit dem staatlich gestützten Systemdoping in Russland. Dass sich Teilnehmer eines Schneller-höher-weiter-Events mit allen Mitteln auszustechen versuchen, ist unschön, aber systemlogisch. Der Tiefpunkt wäre jedoch erreicht, falls sich der Ringe-Clan nicht als Hüter jener Werte betätigt, mit denen er immenses Geld verdient - sondern als Vertuscher. Das wäre der Fall, wenn Positivbefunde bei Athleten, die ohnehin im Fokus stehen, nicht eindeutig validiert werden. Und im Fokus stehen Jamaikas Sprinter ja auch, weil die Sprintstaffel um Märchenläufer Usain Bolt gerade erst die Goldmedaillen von Peking 2008 abgeknöpft bekam - Kollege Nesta Carter war leider positiv.

Andererseits, mal grundsätzlich: Erwartet wirklich jemand von den Steuerleuten der Kommerzmaschine IOC, dass sie ein Dopingfass mit der Aufschrift "Jamaika" öffnen würden? Das wäre spätestens dann merkantiler Selbstmord, falls darin der größte aller Superhelden eine Rolle spielen sollte: Usain Bolt. Die Affäre Ben Johnson bei den Seoul-Spielen 1988 liegt 30 Jahre zurück. Sie ist bis heute das größte Fanal der Sporthistorie.

So bestätigt die Affäre eine alte Erkenntnis: Dem IOC kann es, allen Beteuerungen zum Trotz, nicht um rigorose Betrugsbekämpfung gehen. Nur um Skandalvermeidung. Es bräuchte eine Wada, die nicht ständig als Mitwisserin auffällt oder, wie auch jetzt wieder, den Sündenbock spielt. Sondern eine Wada, die wirklich unabhängig ist. Diese Debatte läuft mal wieder. Aber am Ende werden sich die Manager der sportiven Muskelmesse so eine unabhängige Kontrollinstanz nicht leisten können. Um keinen Preis.

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SZ vom 03.04.2017/ska
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