Zwischen Bozen und der US-Westküste liegen ein paar Tausend Flugkilometer, aber wer über den Anti-Doping-Kampf und die merkwürdige Haltung des organisierten Sports in dieser Frage nachdenkt, muss diese Orte miteinander verbinden. In Bozen war viele Jahre der italienische Top-Geher Alex Schwazer zu Hause, an Amerikas Westküste hält sich seit ihrer Flucht aus Russland die Mittelstrecklerin Julia Stepanowa auf. Beide sind Leichtathleten, beide sind früher positiv getestet worden - und beide haben danach einen wertvollen Beitrag im Kampf gegen Doping geleistet. Stepanowas Aussagen und Beweise gaben den Anstoß zu den Recherchen, die Russlands Staatsdopingsystem aufdeckten. Schwazer berichtete der Justiz über Wissen und Verstrickungen des nationalen Leichtathletik-Verbandes und darüber hinaus.
Beide wollten bei den Spielen in Rio an den Start gehen - und beide müssen befürchten, dass das nicht klappt. Stepanowa wird durch sportpolitische Manöver des von Thomas Bach geführten Internationalen Olympischen Komitees (IOC) gebremst. Und Schwazer ist erneut positiv getestet worden - in einem diffusen Fall.
IOC scheut die Zusage an Stepanowa
Am Dienstagmittag hatte IOC-Boss Bach nach einem Treffen mit ausgewählten Funktionären der olympischen Welt mal wieder beschworen, wie ernst es mit dem Anti-Doping-Kampf sei. Doch das, was er vortrug, waren eher Belege fürs Gegenteil. Er kam den Interessen des chronisch verseuchten russischen Systems entgegen. Er ignorierte weitgehend, dass Mitte Juli eine von der Welt-Anti-Doping-Agentur (Wada) beauftragte Expertengruppe um den Kanadier Richard McLaren einen weiteren Bericht vorlegt, der das Bild des Dopingsumpfes noch deutlich schärfer zeichnen dürfte. Und er schaffte es, den Starthoffnungen der Kronzeugin Stepanowa einen weiteren Schlag zu versetzen.
Gemäß Entscheid des Internationalen Leichtathletik-Verbandes (IAAF) sollen Stepanowa sowie andere russische Athleten, die sich zuletzt außerhalb von Russlands marodem Testsystem bewegten, trotz der Suspendierung des nationalen Verbandes in Rio starten dürfen - unter olympischer, also neutraler Flagge. Das Ansinnen korrigierte Bachs Gremium. Russlands Olympisches Komitee (ROK) sei nicht suspendiert, also gebe es für alle Startberechtigten einen Start unter russischem Banner.
Das ist aus Stepanowas Sicht doppelt bedauerlich. Zum einen müsste sie so just im Namen des Landes und des Sportsystems laufen, dessen Dopingpraktik sie aufdeckte - und das sie immer noch als Verräterin sieht. Zudem bräuchte sie eine Nominierung durchs ROK. Und dessen Chef Alexander Schukow, ein alter Vertrauter von Staatschef Wladimir Putin und ausstaffiert mit einem wichtigen Posten in Bachs IOC, stellte klar, dass es die nicht gebe. Damit kann nur noch das IOC selbst Stepanowa einen Start ermöglichen. Auf Anfrage, ob es dies zusichere, gab es kein klares Ja.
Antwort vom IOC klingt nach Ausflucht
Noch stelle sich diese Frage nicht, teilte Bach mit. Falls die IAAF das Begehr offiziell vorbringe, gebe es eine Prüfung. Das klingt nach Ausflucht und kann zu einer merkwürdigen Situation führen. Aus gutem Grund ermöglicht das IOC Flüchtlingen, die wegen Krieg oder der wirtschaftlichen Lage ihr Land verließen, einen Start unter olympischer Flagge. Andererseits gibt es beim politischen Flüchtling Stepanowa, die aus Furcht vor Repressalien aus Moskau floh, kein klares Statement ab.
Hingegen könnte Stepanowa bei der Leichtathletik-EM in Amsterdam (6. bis 10. Juli) womöglich ihr Comeback auf internationaler Bühne geben und dort unter neutraler Flagge starten; die IAAF bestätigte dem Sportinformationsdienst, dass sie eine Starterlaubnis für den Kontinentalwettkampf beantragt habe. Über diese soll ein Doping-Gremium der IAAF "so schnell wie möglich" entscheiden.
Ebenso spannend ist der neuerliche Positivtest des italienischen Kronzeugen Alex Schwazer. 2008 hatte der Geher in Peking über 50 Kilometer Olympia-Gold gewonnen, vier Jahre später reiste er als Top-Favorit nach London - und wurde kurz vor dem Start mit dem Blutdoping-Klassiker Epo erwischt. Fast vier Jahre dauerte seine Sportsperre, zudem erhielt er durch Italiens Justiz eine Gefängnisstrafe über acht Monate auf Bewährung. Doch Schwazer wollte zurück auf die internationale Bühne. Und für die Umsetzung seiner Comeback-Pläne schloss er sich ausgerechnet Alessandro Donati an.