Im Februar 2009 befindet sich Claudia Pechstein bei der Mehrkampf-WM der Eisschnellläufer in Hamar und bereitet sich auf die nächsten Rennen vor, als sie am Abend zwei Mitglieder der Teamleitung für ein unerwartetes Gespräch aufsuchen. Ihre Botschaft: Der Eislauf-Weltverband (ISU) habe bei Pechstein auffällige Blutwerte festgestellt. Die Angelegenheit bleibt zunächst in einem kleinen Kreis. Pechstein erklärt, sie sei erkrankt, und reist ab – in der Hoffnung, dass sich die Sache bald zu ihren Gunsten klärt. Tatsächlich entwickelt sich daraus der längste Dopingfall, den es in Deutschland wohl jemals gab.
Im Juli 2009 wird die Sache öffentlich. Das zuständige Gremium der ISU sperrt Pechstein für zwei Jahre, der Internationale Sportgerichtshof (Cas) bestätigt diese Sanktion wenige Monate später. Seit jener Zeit herrscht ein Glaubenskrieg rund um Pechstein, damals mit fünf Olympiasiegen Deutschlands erfolgreichste Wintersportlerin. Sie selbst hat Doping stets bestritten und kämpft seit Jahren dafür, dass sie als unschuldig gilt und diese Unschuld auch gerichtlich anerkannt wird. Und nun, mehr als 15 Jahre später, erreichen diese Bemühungen die bisher höchste Stufe. Denn am Donnerstagnachmittag wird sich der 29. Zivilsenat des Oberlandesgerichtes München (OLG) inhaltlich mit dem Fall beschäftigen.
Was ist der Grund für das Gerichtsverfahren?
Das Oberlandesgericht verhandelt über eine bereits Ende 2012 eingereichte Klage der Eisschnellläuferin gegen den Eislauf-Weltverband. Pechstein verlangt Schadenersatz und Schmerzensgeld, weil sie nach ihrer Meinung zu Unrecht gesperrt worden ist. Damals gab Pechstein als geforderten Schadenersatz eine Summe von circa 3,5 Millionen Euro an (zuzüglich Zinsen), darunter ausweislich damaliger Gerichtsunterlagen alleine 2,8 Millionen Euro für „entgangene Sponsorengelder, Zahlungen für gekündigte Auftritte und einen Beratervertrag“.
Inzwischen geht es nach Auskunft von Pechsteins Lager insgesamt um rund acht Millionen Euro. Die Steigerung erklärt ihr Manager Ralf Grengel auf SZ-Anfrage so: Da Pechstein eine „bis heute aktive Sportlerin ist, hat sich der Schaden von Saison zu Saison vergrößert, insbesondere durch ausgebliebene Sponsorengelder. Als Folge der von der ISU zu Unrecht verhängten Sperre und dem damit einhergehenden Rufmord“.
Warum hat es so lange gedauert, bis sich das Oberlandesgericht nun inhaltlich mit der Klage befasst?
Die Klage hat einen langen Weg durch alle vorstellbaren Instanzen des deutschen Rechtssystems hinter sich und dabei abwechselnd mal die eine und mal die andere Partei als Gewinner hervorgebracht. Im Kern ging es bisher um die grundsätzliche Frage, ob sich eine Athletin, die von den sportrechtlichen Instanzen verurteilt worden ist, überhaupt noch an ein ziviles Gericht in Deutschland wenden kann oder nicht.
Dabei wies im Februar 2014 das Landgericht München diese Klage zunächst ab. Doch ein Jahr später hob das Oberlandesgericht diese Entscheidung wieder auf. Nach seiner Auffassung sei der Cas kein echtes Schiedsgericht – vereinfacht gesagt, weil die Neutralität aufgrund des großen Einflusses des organisierten Sports auf die Institution nicht gewährleistet sei. Der Eislauf-Weltverband zog daraufhin vor den Bundesgerichtshof (BGH) und bekam dort seinerseits recht. Doch selbst damit war der Fall nicht erledigt: Denn sechs Jahre später revidierte das von Pechstein angerufene Bundesverfassungsgericht das Urteil der Karlsruher Kollegen, weil es sich der Kritik am Cas anschloss.
Worum geht es jetzt vor dem OLG München?
Um die Kernfrage, ob die Zweijahressperre für Pechstein rechtens war – und damit einhergehend auch um die Frage, ob das Oberlandesgericht dem Vortrag der ISU folgt, dass ein Dopingverstoß vorlag. Pechsteins Sperre erfolgte im Jahr 2009 nicht etwa nach einem positiven Dopingtest, sondern über einen sogenannten indirekten Nachweis: Die ISU hatte eine erhöhte Konzentration von Retikulozyten festgestellt, einer Vorstufe der roten Blutkörperchen. Wenn diese vermehrt auftreten, kann dies ein Hinweis auf Doping sein.
Der Cas kam damals zu dem Schluss, dass die Sperre mit dem damaligen Reglement vereinbar sei. Allerdings wurden kurz danach die Statuten dahingehend geändert, dass eine Sperre aufgrund nur eines auffälligen Blutwertes nicht mehr möglich gewesen wäre. Pechstein erklärte von Beginn an, sie habe nicht gedopt, und versuchte auf diversen Wegen, die ISU-Position zu erschüttern, hatte damit aber im sportrechtlichen Verfahren keinen Erfolg. Sie erklärt die auffälligen Werte mit einer durch den Vater vererbten Blutanomalie.
Wie wird die Verhandlung verlaufen?
Das lässt sich nur schwer prognostizieren. Beim ersten OLG-Verfahren vor fast zehn Jahren war der Senat klar auf Pechsteins Seite. Allerdings lassen sich daraus nur bedingt Rückschlüsse ziehen. Damals ging es zunächst zuvorderst um die Frage, ob die Klage überhaupt zulässig ist – und noch nicht inhaltlich um die Millionenforderung. Außerdem hat sich die Besetzung der Kammer seitdem verändert.
Eine Kernfrage ist, wie intensiv der Senat in die Thematik einsteigen wird. Für den ersten Tag sind keine Zeugen oder Sachverständigen geladen. Wenn das Gericht ausschließlich Rechtsfragen erörtern möchte, könnte es auch bei einem Termin bleiben; sollte es in die Beweisaufnahme gehen, kann sich der Prozess ziehen. In anderen Verfahren mit Dopingbezug kam es vor, dass ein beteiligter Sportler unter Eid ausgesagt hat, nicht gedopt zu haben – etwa der frühere Radprofi Jan Ullrich in einer Auseinandersetzung mit einem früheren Rennstallbesitzer. Pechsteins Manager erklärt, dass auch die Eisschnellläuferin „jederzeit“ bereit wäre, unter Eid auszusagen. Er sagt aber zugleich: „Allerdings liegt die Beweislast für ein Dopingvergehen vollständig bei der ISU. Das hat das OLG bereits vor zehn Jahren klargestellt.“
Dass bereits am Donnerstag ein Urteil verkündet wird, ist eher unwahrscheinlich; dass das Gericht einen deutlichen Fingerzeig liefert, wie es den Fall sieht, allerdings schon. Möglich ist auch ein Vergleich zwischen den Parteien. Pechstein sagt, sie sei vergleichsbereit – allerdings nur, „wenn die ISU bereit ist, ihren Fehler einzugestehen“, wie ihr Manager mitteilt. Die ISU beantwortet eine Anfrage nicht.
Was passiert nach einem Urteil?
Claudia Pechstein fühlt sich moralisch längst rehabilitiert. Sie ist nach dem Ablauf ihrer Sperre in den Sport zurückgekehrt, hat danach noch dreimal an Olympischen Spielen teilgenommen und macht auch in diesem Jahr weiter, obwohl sie inzwischen 52 Jahre alt ist. Der Deutsche Olympische Sportbund (DOSB) hat sich vor einigen Jahren bei Pechstein entschuldigt und erklärt, sie sei nicht Täter, sondern Opfer; Basis dafür war das Votum einer von ihm selbst zusammengestellten Gutachtergruppe. Bei den Winterspielen in Peking 2022 war sie sogar Fahnenträgerin.
Pechstein hat indes immer klargemacht, wie bedeutend es für sie ist, dass sich ein ziviles Gericht mit ihrem Fall befasst. Wenn ihr das Oberlandesgericht München nun recht gibt und sie viele Millionen Euro als Schadenersatz bekommt, dürfte das die Krönung ihres ewigen Kampfes gegen eine aus ihrer Sicht ungerechtfertigte Sperre sein. Aber was würde das für die Wahrnehmung ihrer Person und ihres Falls bedeuten, wenn das Gericht der ISU-Linie folgt und Pechsteins Klage abweist?
Dabei ist unklar, wann genau das feststehen wird. Je nach Beschluss kann sich die unterlegene Partei erneut an den BGH wenden. Der längste Dopingfall, den es in Deutschland je gab, er kann noch eine ganze Weile dauern.