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Doping bei Olympia:Wie die olympische Familie Doping kleinredet

Kurz vor dem Start in Rio zeigen sich die Russen als kompromisslose Anti-Doping-Kämpfer. Thomas Bach und die anderen Funktionäre spielen das absurde Spiel mit. Nur einer stört.

Von Thomas Kistner, Rio de Janeiro

Das Finale im olympischen Armdrücken findet in den Strandhotels von Barra statt, begonnen hat der Wettstreit um die Integrität der Spiele schon vor Wochen. Eins zu eins lautete der Zwischenstand bei der IOC-Session am Dienstag; gegenüber stehen sich Thomas Bach, Chef des Internationalen Olympischen Komitees, und Craig Reedie, Chef der Welt-Anti-Doping-Agentur Wada.

Während der deutsche Musterfunktionär seinen Ringe-Clan im erprobten Einheitsparteitag-Stil hinter sich scharte, punktete der schwer attackierte Schotte erst am Ende des Tages, mit beißenden Spitzen bei einer kurzfristig einberufenen Pressekonferenz. Aber der Wada-Chef weiß das Gros der Athleten und des Publikums hinter sich, und im Medienkreis fällt es leicht, die Angriffe der IOC-Kollegen als substanzlos zu entlarven.

In Sotschi verschwanden Proben in einem Loch in der Wand

Es sind raue Zeiten im Olymp, der konsequent servile Umgang mit staatlich organisiertem Doping im Sportreich Wladimir Putins hat das IOC in den Brennpunkt internationaler Kritik gerückt. Zwei Ermittler- Stäbe im Auftrag der Wada hatten ein ministeriell gelenktes Betrugssystem aufgedeckt. Der jüngste Report des kanadischen Juristen Richard McLaren, vorgelegt Mitte Juli, zeichnet "jenseits allen Zweifels" nach, wie der Staat als Schaltzentrale des Betrugs fungierte.

Der (beurlaubte) Vize-Sportminister Juri Nagornik pickte demnach persönlich die Sportler heraus, die es zu schützen galt; positive Proben wurden vernichtet. Insgesamt, schält sich bei den anhaltenden Ermittlungen heraus, dürften bis zu 9000 Proben zerstört worden sein. Bei den Sotschi-Winterspielen 2014, als im Labor Scharen internationaler Wissenschaftler zugange waren, musste der Betrug abgefeimter ablaufen. Spätnachts wurden positive Proben russischer Olympiahelden durch ein Loch in der Laborwand an Agenten des russischen FSB gereicht, die sie dank einer raffinierten Technik in negative Proben verwandelten.

Die diabolische Meisterleistung brachte nach Aktenlage Dutzende ausländischer Athleten um ihre Medaillen und zerstörte die Integrität des höchsten olympischen Gutes, des fairen Wettkampfs. Das IOC honorierte sie mit einer Geste für Putin: Russlands Helden werden nicht kollektiv ausgeladen. Nur die Leichtathleten waren nicht mehr zu retten, der Weltverband IAAF hatte sie schon im Juni komplett für Rio gesperrt - der Sportgerichtshof Cas hatte das Verdikt abgesegnet.

So formierte sich zum Sessionsauftakt Bachs olympische Wagenburg. Erst wetterte der russische IOC-Mann Alexander Shukow gegen die Wada, am Ende lobte Bach "eine sehr gute Debatte" - dazwischen besang ein Chor aus Mitgliedern von Monaco bis Nordkorea die Weisheit des Präsidenten und seiner Exekutive. All das wurde vorgetragen - die Kürze der Zeit, das Nein zu Kollektivstrafen -, was Bach in den Tagen vorher erzählt hatte. Ist die olympische Familie unter sich, wird ihre Gruppendynamik fast physisch spürbar. Als Bach den Beschluss seiner Exekutive für einen Start der russischen Sportler nach einer Einzelfallprüfung absegnen ließ, die nicht seriös zu leisten ist, votierte nur Englands Athletenvertreter Adam Pengilly dagegen.

Die Bühne der IOC-Session gehörte den Russen. NOK-Chef Shukow ratterte vom Papier eine Brandrede runter, die Arme verschränkt auf den Tisch gepresst wie ein Sturkopf, der seine Suppe nicht essen will. Der Vortrag folgte streng der olympischen Null-Toleranz-Rhetorik zum Pharmabetrug: Erst hielt er fest, dass Doping etwas Entsetzliches sei und dringend bekämpft gehöre, Russland wolle voll mitziehen und Sünder "hart bestrafen".

Dann der Umkehrschwung: Systemdoping? Die russische Anti-Doping-Agentur Rusada, die ihr langjähriger Leiter Grigori Rodschenko als Kronzeuge des McLaren-Reports als Schummel-Zentrale auffliegen ließ, kann es ja nicht gewesen sein, insinuierte der Russe listig. Denn: "Die Arbeit der Rusada wurde ständig international überwacht. Die Wada lobte sie für Sotschi sogar als beispielhaft!"

Weil also die Wada nicht schon bei den Geheimdienst-Spielen in Sotschi herausfand, dass der Medaillenspiegel hinter der Laborwand geregelt wurde und am Ende arglos ein Lob aussprach, ist sie es, die jetzt in Frage gestellt wird. Die originelle Logik fand breite Zustimmung im IOC-Konvent.

Reedie weiß, was Funktionären blüht, die nicht in der Spur des Vorsitzenden laufen. Er dürfte im IOC nicht mehr viel erreichen, was ihm an anderer Stelle Freiheit verschafft. Angelastet wird ihm vor allem, dass seine Wada den desaströsen McLaren-Report so kurz vor Spielebeginn präsentiert hat. Was schlicht den Ermittlungsumständen geschuldet ist - doch offenbar wäre es dem IOC lieber gewesen, erst alle Russen in Rio starten zu lassen, um später die Medaillen wieder umzuverteilen. Kübelweise, wie es nun im Nachklapp des Sotschi-Betrugs zu erwarten ist. Auch das dürfte den heillosen Zorns der Olympier schüren: Die Causa Russland ist mit der Schlussfeier in Rio de Janeiro nicht ausgestanden.

In der Session gab Reedie tapfer zurück.

Er habe den Sotschi-Report deshalb rasch vorgelegt, weil er "konkrete Beweise" beinhalte und selbst Bach "einen Anschlag auf die Integrität des Sports" konstatiert habe. Auch habe Russland "von allerhöchster Stelle erklärt, dass beide Wada-Berichte zutreffen". Reedie geißelte die Verweigerungshaltung der Russen in den letzten Monaten, als dort externe Kontrolleure Athleten zu testen versuchten: "Nur 50 Prozent der Tests fanden statt, es gab Probleme mit gesperrten Städten, in die wir gar nicht rein durften. Das ganze System war schlecht, auch die Leute in Sotschi haben ungern kooperiert. Und Zollbeamte haben manchmal sogar Pakete geöffnet, bevor sie ins Ausland weitergeleitet wurden."

Bei der folgenden Fragerunde entpuppte sich IOC-Kollege Chang aus Nordkorea als Compliance-Experte; er witterte Interessenskonflikte in Reedies Doppelrolle als IOC-Vize und Wada-Chef. Bisher hat das IOC diese Ämterverquickung begrüßt, sie gewährt großen Einfluss auf die Agentur.

Diesen und andere Spieße drehte Reedie einfach um. Er sei beruhigt, meinte er süffisant, dass die Russen ihr Dopingproblem nun in Vitali Smirnows Hände legten. Der 81-jährige Altkader führte den Kreml-Sport schon durch die Sowjetzeit und hielt gleich zu Amtsantritt fest: "Es gab nie Staatsdoping in Russland!" Bis heute ungeklärt sind leider böse Gerüchte darüber, was die Sowjets bei den Spielen 1988 in Seoul, als sie und die Staatsdopingtruppe der DDR den Medaillenspiegel sprengten, mit einem Schiff bezweckt haben könnten, das 60 Kilometer vor Koreas Küste ankerte und laut Los Angeles Times "besser bewacht als ein Atom-U-Boot" gewesen sein soll.

An Bachs Adresse, der nun elementare Umbauten in der Wada fordert, hielt Reedie fest: "Herr Präsident, ich war sehr froh, als sie sagten, dass dafür neue Initiativen vom IOC und den Verbänden kommen. Auch nehme ich zur Kenntnis, dass sie eine sehr effektive Wada wünschen." Später, vor der Presse, konkretisierte er das: "Vielleicht braucht die Wada mehr Macht. Das bedeutet, dass andere Macht verlieren." Dass das IOC Macht abgeben will, just im heikelsten Geschäftsbereich, in der Dopingfrage, ist seit Rio fraglicher denn je.

In Rio stärken 19 europäische Sportminister der Wada den Rücken, von England über Skandinavien bis Österreich. Nicht dabei ist Deutschland. Deutsche Funktionäre geben ihrem langjährigen Patron Bach verbalen Feuerschutz in der größten Integritäts-Krise des Sports. Ob zum Thema in Berlin aus Patriotismus geschwiegen wird, ist nicht überliefert; wohl aber, dass eine deutsche Initiative pro Julia Stepanowa nun schon 190 000 Unterstützer fand. Auch die Russin steckte einst im Dopingsystem, sie packte alles auf den Tisch. In Rio starten darf die Whistleblowerin nicht, das IOC hält sie für ethisch ungeeignet.

Am Dienstag machte draußen vorm Verhandlungssaal in Barra ein alter Fahrensmann Zigarettenpause. Gianfranco Kasper, Chef des Ski-Weltverbands Fis, plaudert über das, was ihm eine im Sport tätigen russische Bekannte gesteckt habe. Das russische Team habe ein riesiges Flugzeug, in dem ein Trainingslager eingerichtet sei; bei der Anreise soll fleißig geübt worden sein, er habe dazu auch Fotos gesehen. Das Objekt könnte aber auch während der Spiele zur Verfügung stehen. Ein Trainingscamp im Flugzeug? Klingt grotesk. So grotesk wie Löcher in der Laborwand.

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SZ vom 04.08.2016/jbe
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