Als Sportler hat Karl Quade an drei Paralympics teilgenommen, seit 20 Jahren ist er Chef der Mission des deutschen Teams. 2013 hat er noch einmal im Sitzvolleyball ausgeholfen, bei der deutschen Meisterschaft, 20 Jahre nach dem Ende seiner Laufbahn. Nach den Spielen musste Quade zur Dopingprobe, seiner ersten überhaupt. Wenn er diese Anekdote erzählt, müssen junge Sportler lachen. Die Paralympier der Gegenwart werden regelmäßig kontrolliert, mitunter zweimal pro Woche. Für sie gelten die gleichen Richtlinien wie für nichtbehinderte Sportler. Zumindest in Deutschland.
Als Quade den Report der Welt-Anti- Doping-Agentur (Wada) über russisches Staatsdoping las, kam er aus dem Staunen nicht heraus. Zwischen 2012 und 2015 sind 643 positive Proben verschwunden, um russische Athleten zu schützen, darunter waren 35 Proben aus dem Paralympischen Sport. Um welche Sportarten es sich handelt, wollte das Internationale Paralympische Komitee nicht mitteilen. Das IPC übermittelte 19 weitere Proben zur Untersuchung an die Ermittler. Sie wurden bei den Paralympics 2014 entnommen, die kurz nach Olympia in Sotschi stattfanden. Und das könnte erst der Anfang sein.
"Diese Dimension hat es im Behindertensport noch nicht gegeben", sagt Karl Quade. Das IPC hatte die Suspendierung des Paralympischen Komitees Russlands schon vor einigen Tagen eingeleitet, die Entscheidung wird in dieser Woche getroffen. Sollte das IPC die Russen für die Weltspiele von Rio und darüber hinaus ausschließen, würde es auf Distanz zum Internationalen Olympischen Komitee gehen. Das IOC entschied sich gegen einen kompletten Olympia-Ausschluss. "Viele Menschen blicken sehr kritisch auf sportliche Großveranstaltungen", sagt Quade: "Wenn es um Sponsoren geht, sitzt das IPC noch immer am Katzentisch. Mit etwas Mut kann das IPC eine zukunftsfähige Entscheidung treffen, auch für die Finanzierung unseres Spitzensports."
Erst unter Gorbatschow wurden Behinderte im Fernsehen gezeigt
Im paralympischen Sport ist Russland nicht so einflussreich wie im olympischen, das hat historische Gründe. Die Kommunisten hatten den Massensport für Propaganda genutzt, die vermeintlich Schwachen wurden abgeschottet. 1980 fanden die Olympischen Spiele in Moskau statt. Damals weigerte sich die Sowjetunion, auch die Paralympics zu organisieren. Erst unter Michail Gorbatschow durften behinderte Menschen im Fernsehen gezeigt werden. Doch noch heute werden Kinder mit einer Behinderung in Kategorien eingeteilt: Nach diesem 1932 eingeführten Modell wird entschieden, für welche Bildung sie geeignet sind und welche Arbeit sie später verrichten können. Viele Jugendliche werden mit Gleichaltrigen in Heimen untergebracht. Wegen fehlender Wartung und Schutzvorkehrungen sind einige dieser Einrichtungen in Brand geraten, dutzende Menschen starben.
Das Nationale Paralympische Komitee Russlands wurde erst 1995 gegründet. Dessen Präsident ist seit bald 20 Jahren Wladimir Lukin, ein Vertrauter Putins und bis 2014 Menschenrechtsbeauftragter im Kreml. Lukin, der im IPC nicht sonderlich gut vernetzt ist, sollte den Behindertensport professionalisieren. Putin plante für 2014 ein menschenfreundliches Sportfest. Der Westen sollte sehen, dass Russland auch seine Minderheiten ernst nehmen würde. Mit Mitteln des Staates und Geldern von Oligarchen organisierte das NPC die Sichtung von tausenden Menschen mit einer Behinderung. Doch im Breiten- und Rehabilitationssport passierte wenig, der Alltag der 13 Millionen Russen mit einer Behinderung hat sich nicht wesentlich geändert. Der Fokus lag auf dem Spitzensport: So gewann Russland bei den letzten drei Winter-Paralympics die meisten Medaillen. In Sotschi sammelten die Gastgeber 80 Medaillen, die zweitplatzierte Ukraine holte 25. Putin zeigte sich in Sotschi immer wieder mit Paralympiern, das russische Fernsehen übertrug erstmals die Wettkämpfe. Etliche Athleten hatten ihre Behinderung als Soldaten im Tschetschenien-Krieg davongetragen, andere durch Unfälle und Krankheiten. Wurden diese Sportler ohne ihr Wissen gedopt, um die Medaillendominanz der Russen möglich zu machen?
Schon während der Spiele 2014 waren Gerüchte im Umlauf. Einige Verbände wunderten sich, warum die russischen Paralympier einen gesonderten Raum für die Abnahme der Dopingproben zur Verfügung hatten. Das Unbehagen verschwand, denn das dominierende Thema war die Annektierung der Krim. Überdies waren weit weniger Journalisten und Beobachter in Sotschi im Einsatz.
Bei Paralympics werden Dopingproben seit 1984 durchgeführt. Oft können behinderte Sportler positive Proben wieder aufheben lassen, weil ihnen wegen ihrer Behinderung Medikamente gestattet sind, die auf der Verbotsliste stehen. Das System wurde stetig verbessert. Aber: Nach Olympischen Spielen werden Proben jahrelang aufbewahrt, für dann modernere Methoden - nach Paralympics allerdings nur wenige Monate lang, aus Kostengründen. Der DBS lässt Kontrollen erst seit Anfang 2015 komplett von der Nationalen Anti-Doping-Agentur durchführen, davor waren dafür auch verbandsnahe Ärzte zuständig.
Der Leichtathlet Heinrich Popow sagt, man dürfe das Problem nicht auf Russland reduzieren. Der Goldgewinner von 2012 über 100 Meter kommt bei Wettkämpfen immer wieder auch mit Athleten ins Gespräch, die aus Mitteleuropa und Nordamerika stammen: "Wenn ich denen erzähle, dass wir in Deutschland für unangekündigte Proben auch früh morgens aus dem Bett geholt werden, dann zeigen die uns den Vogel", sagt er, "das kennen die nicht." Die Ursprünge der Paralympics liegen fast 70 Jahr zurück, aber eine ernstzunehmende Debatte über Doping scheint erst jetzt zu beginnen.