Doping:101 Medikamente, 400 Injektionen

Ein Lehrstück des Anti-Doping-Kampfes: Vor 20 Jahren starb die Siebenkämpferin Birgit Dressel. Der organisierte Sport ging nach obligaten Betroffenheitsadressen zur Tagesordnung über, verharmloste und verdrängte weiter.

Michael Gernandt

Die letzten Jahre vor der Wende. Eine schlimme Zeit, die schlimmste aus der Sicht der Dopingbekämpfung. Bekämpfung? Verharmlosung, Heuchelei und Lügen waren damals, auf dem traurigen Höhepunkt der Seuche, die wahren Assoziationen. Der Kalte Krieg befand sich in seiner heißen Phase, auch im Spitzensport. Hüben wie drüben hieß es: Mein Name ist Hase, ich weiß von nichts. Dabei wurde geschluckt und gespritzt, was die Labore hergaben. Zentral gelenkt, flächendeckend, zum Wohl des Sozialismus im Osten, in kleinen Zellen, eigeninitiativ, zur Selbstbehauptung im Westen. Die Bundesrepublik befand sich an der Seite der drei Affen - nichts sehen, hören, sprechen -, der Rote Bruder auf der Seite angeblich rigoroser Dopinggegner. Und war deshalb sportlich weit enteilt.

Deutschland-West anno 1987, ein Jahr vor dem Urknall, dem Fall Ben Johnson, und drei Jahre vor der Enthüllung des DDR-Dopings durch das Heidelberger Ehepaar Berendonk-Franke: nur noch verblasste Erinnerungen an Dopinggeständnisse der Leichtathleten Manfred Ommer, Uwe Beyer und Walter Schmidt und an eine aufschlussreiche Bundestagsanhörung zum Doping im Jahr 1977. In diesen Zustand weit verbreiteter Amnesie platzte am 10. April die Nachricht vom plötzlichen Tod der EM-Vierten im Siebenkampf, Birgit Dressel, 26, aus Mainz. Drei Tage hatte der Todeskampf der sechs Wochen zuvor beim letzten Besuch in der Freiburger Klinik ihres Vertrauensarztes Armin Klümper angeblich noch ,,vorzeigefähigen, kraftstrotzenden, in höchstem Maß gesunden Athletin'' (Klümper) gedauert. Eine Diagnose, die nichts war als die reine Unwahrheit.

Offiziell starb Dressel, so ein Gutachten 100 Tage nach ihrem Ableben, an einem von Medikamenten ausgelösten toxisch-allergischen Schock. Aber ihr Organismus war bereits überfordert, als in einer Mainzer Klinik zwei Dutzend Ärzte vom 8. April an zunehmend hektisch den Kampf um das Leben der Sportlerin aufnahmen.

Längst überfordert von 101 (!) Medikamenten und mehr als 400 (!) Injektionen abenteuerlicher Zusammensetzung, die von Klümper im Verlauf von zwei Jahren bei der Behandlung Dressels verabreicht worden waren. Dass Dressel, die von 1985 auf 1986 in der Weltrangliste von Platz 38 auf Rang sechs kletterte, mehr als ein Jahr lang auch illegale Anabolika genommen hatte, auch in den Wochen vor ihrem Tod, ergaben Untersuchungen. Dopingaufklärerin Brigitte Berendonk verweist in ihrem Standardwerk ,,Doping - Von der Forschung zum Betrug'' auf negative Erfahrungen der DDR-Mediziner beim Einsatz von Anabolika: Sie können Muskelprobleme auslösen, solche, deretwegen Dressel am 8.April ihr Training abbrechen und sich in die Klinik begeben musste.

Erst der Fall Ben Johnson änderte das Bewusssein

Dass der Tod durch Allergieschock die deutsche Öffentlichkeit über die Maßen schockiert hätte, ist nicht erinnerlich. Wohl auch, weil sie erst im September über die Todesumstände aufgeklärt wurde. Der organisierte Sport, durchaus erleichtert, dass kein direkter Zusammenhang zu Doping nachgewiesen werden konnte, ging nach obligaten Betroffenheitsadressen zur Tagesordnung über, verharmloste und verdrängte weiter. Und grenzte Nestbeschmutzer aus.

Im Dressel-Fall traf es Eberhard Munzert, den Präsidenten des Deutschen Leichtathletik-Verbands (DLV). Das medizinische Gutachten hatte ihm ,,die Augen geöffnet''. Er weigerte sich, Klümper als DLV-Teamarzt für die Spiele 1988 zu nominieren. Damit brachte er Athleten, die seit Jahren wie Lemminge zum Guru von der Auwald-Klinik zogen, Trainer und Funktionärskollegen gegen sich auf. Selbst NOK-Präsident Willi Daume, ein Patient der Freiburger Ärzte, wollte nicht begreifen und versuchte, Munzert umzustimmen. Ohne Adjutanten in seinem Feldzug gegen Doping trat er im Sommer 1988 ,,aus persönlichen Gründen'' zurück.

Erst nach Johnson und dem Mauerfall trat eine mäßige Bewusstseinsänderung ein. Zungen lösten sich, Gerichte halfen nach. Was aber ist, am 20. Todestag, geblieben vom Fall Dressel außer der Erkenntnis, hier könnte eine Athletin Opfer falschen Ehrgeizes und willfährigen Beistands der Sportmedizin geworden sein? ,,Die Frage nach dem Warum'', hat Eberhard Munzert vor zehn Jahren vorausgesagt, ,,wird uns noch lange quälen.'' Auch die, die von sauberem Sport salbadern, aber nur den eigenen Vorteil meinen?

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