Diskussionen im American Football:"Wir sind keine Gladiatoren!"

Jovan Belcher

Jovan Belcher: erfolgreicher Sportler, der zum Mörder und Selbstmörder wurde.

(Foto: AP)

Warum werden auffallend viele Football-Profis spontan gewalttätig? Studien liefern alarmierende Ergebnisse, die Liga gibt sich ahnungslos. Nachdem der Profi Jovan Belcher erst seine Freundin und dann sich selbst erschießt, entbrennt in den USA eine Debatte über die Folgen von Kopfverletzungen im Sport.

Von Jürgen Schmieder

Am 7. Oktober trat Eric Winston nach einer Niederlage vor die Journalisten - und es war beeindruckend, was der Offensivspieler der Kansas City Chiefs da sagte: "Wir sind keine Gladiatoren, das hier ist nicht das Kolosseum in Rom. Das hier ist ein Spiel! Ich habe mittlerweile verstanden, dass ich wahrscheinlich nicht so lange leben werde, weil ich dieses Spiel spiele. Das ist okay."

Acht Wochen später, am 1. Dezember, erschoss Winstons Teamkollege Jovan Belcher erst seine Freundin Kasandra Perkins und dann sich selbst. Der 25 Jahre alte Belcher hatte am Abend zuvor einen heftigen Streit mit seiner drei Jahre jüngeren Freundin, der sich um Treue, Ausgehzeiten und Finanzen drehte. Belcher verließ das Haus, betrank sich in einem Club und schlief zunächst in seinem Bentley. Dort wurde er von Polizisten aufgeweckt, ging in die Wohnung einer Freundin, schlief wieder und fuhr anschließend nach Hause.

Dort stritt er erneut mit Perkins. Er holte eine seiner zahlreichen Pistolen und feuerte neun Schüsse in Brust, Hals und Bauch seiner Freundin. Belchers Mutter wurde durch die Schüsse geweckt, ging ins Schlafzimmer und sah, wie sich ihr Sohn bei Perkins entschuldigte und ihre Stirn küsste. Belcher umarmte seine Mutter und seine drei Monate alte Tochter, dann fuhr er mit einer zweiten Waffe zum Trainingsgelände der Chiefs, bedankte sich auf dem Parkplatz bei Chiefs-Manager Scott Prioli und Cheftrainer Romeo Crennel für die Chance, Profi zu sein. "Ich kann nicht mehr hier sein", sagte Belcher, ging hinter seinem Auto auf die Knie und schoss sich in den Kopf.

Die Tat löste in den Vereinigten Staaten zwei Debatten aus, die nun hitzig geführt werden. Die eine dreht sich um die Gesetze zum Waffenbesitz und darum, ob Belcher und Perkins noch am Leben wären, wenn im Haus keine Waffe gewesen wäre. Das implizierte Bob Costas, einer der bekanntesten Sportjournalisten der USA, in einem Kommentar bei NBC. Die Replik des konservativen Journalisten John Lott bei Fox News: "Schusswaffen retten jedes Jahr mehr Leben, als sie kosten. Wenn Frauen sich schützen wollen, sollten sie sich eine Waffe besorgen."

Die andere Debatte geht darum: Warum sind derart viele aktive und ehemalige Footballspieler an Gewaltverbrechen beteiligt? Belcher ist nach Junior Seau und Ray Easterling der dritte Suizid in diesem Jahr. Er war überaus erfolgreich, verdiente 1,93 Millionen Dollar im Jahr, hatte eine kleine Tochter und Kollegen, die ihn an Thanksgiving zum Essen einluden - warum dreht so einer plötzlich durch? Kann es sein, dass die National Football League wandelnde Pulverfässer züchtet?

Im Haus von Belcher wurden mehrere Schusswaffen gefunden, über sein Temperament gibt es widersprüchliche Aussagen. Teamkollegen beschreiben ihn als sanftmütig und liebenswert. "Er war ein ruhiger Kerl, der stets hart gearbeitet hat", sagte Anthony Breach. Trainer Romeo Crennel gab an, Belcher habe "keine größeren Probleme" in seinem Privatleben gehabt, die Team-Psychologen hätten keine Auffälligkeiten bemerkt.

Dagegen stehen andere Berichte: Während seiner Zeit an der University of Maine hatte sich Belcher ernsthaft verletzt, weil er nach einem Streit mit einer Freundin eine Fensterscheibe eingeschlagen hatte. "Da war viel Blut", steht im Polizeibericht von damals. Ein enger Freund sagte der New York Post, dass Belcher seit Jahren depressiv gewesen sei und Schmerzmittel gegen die Folgen von Verletzungen genommen und auch regelmäßig Alkohol getrunken habe.

Vor der laufenden Saison veröffentlichten die Centers for Desease Control and Prevention eine Studie. Die Forscher der staatlichen Einrichtung hatten 3500 ehemalige Footballspieler untersucht und waren zu dem Ergebnis gekommen, dass Footballspieler aufgrund der häufigen Zusammenstöße vier Mal so häufig an Alzheimer und Parkinson erkranken würden wie andere Menschen, eine Schädigung des Nervensystems sei 20 Mal so wahrscheinlich. In der San Diego Tribune war zu lesen: "Innerhalb von zwei Jahren nach dem Karriereende sind drei von vier Footballspielern entweder depressiv, bankrott, alkoholabhängig oder alles zugleich."

Geschädigt durch Kopftreffer

Zwei Tage nach der Tragödie von Kansas City veröffentlichten Forscher der Boston University eine weitere Studie: Wiederholte Erschütterungen des Kopfes, wie sie Footballer, Boxer und Eishockeyspieler in beinahe jedem Training erfahren, führen zu geschädigten Nervensträngen. Das habe zur Folge, dass Zellen in den Regionen abgetötet werden, die Emotionen und kritisches Denken steuern. Diese Sportler leiden nicht nur an Gedächtnisschwund, auch grundsätzlich sanftmütige Spieler würden zu Alkoholmissbrauch, Aggression und explosivem Verhalten tendieren.

Brandon Meriweather, Todd Heap

Brandon Meriweather bei einem Zusammenstoß: Der Verteidiger der New England Patriots musste 50.000 Dollar Strafe zahlen.

(Foto: AP)

Also zu genau dem, was Jovan Belcher am 1. Dezember zeigte. Ray Lucas ist ein ehemaliger NFL-Quarterback, in seiner acht Jahre dauernden Karriere erlitt er mehr als ein Dutzend Gehirnerschütterungen. Nach der Laufbahn stellte er fest, dass er depressiv und aggressiv wurde. "Selbst kleine Sachen wie eine rote Ampel haben mich ausflippen lassen. Ich war in Gefahr, andere oder mich selbst ernsthaft zu verletzen", sagt der 40 Jahre alte Lucas.

Mittlerweile nimmt er 38 Pillen pro Tag, besucht Kurse gegen Stress und Gedächtnisverlust. Er bekäme nun Anrufe von aktiven Spielern, die fürchten, ein ähnliches Schicksal wie Belcher oder er zu erleiden: "Ich sage ihnen die Wahrheit: Ich habe jeden Tag Schmerzen - aber ich komme mittlerweile damit zurecht."

Die NFL nimmt es wissentlich in Kauf - das schwingt in diesen Studien und in Geschichten von ehemaligen Spielern wie Lucas mit -, dass jeden Sonntag Football spielende Zeitbomben über die Spielfelder toben. Einräumen will die Liga dies aber nicht. Nach Tragödien geben sich die Verantwortlichen betroffen und ahnungslos, es werden Maßnahmen angekündigt, wirklich verändert wird kaum etwas. Commissioner Roger Gooddell etwa sagt, dass die Regeln zur Prävention von Kopfverletzungen ausreichend seien - schließlich seien vor zwei Jahren die harten Helm-an-Helm-Kollisionen verboten worden. Das wirkt angesichts der Tragödien zynisch: Vorfall unter den Teppich, die Show geht weiter.

Mehr als 3000 ehemalige Footballspieler haben die NFL mittlerweile verklagt. Sie wollen erreichen, dass die Liga die Gefahren anerkennt und sich um ehemalige Spieler kümmert. In der 86 Seiten langen Anklageschrift heißt es: "Seit Jahrzehnten wissen die Beklagten, dass vielfache Schläge auf den Kopf zu langfristigen Gehirnverletzungen führen können, zu Gedächtnisverlust, Demenz und Depression."

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(Foto: AFP)

Auslöser der Klage war der Selbstmord des ehemaligen Footballspielers Dave Duerson im Februar 2011. In einer Abschiedsnachricht hatte Duerson gefordert, sein Gehirn auf Dementia Pugilistica zu untersuchen, einer der Parkinson-Krankheit ähnlichen Dysfunktion, die erst nach dem Tod festgestellt werden kann. Forscher der Boston University fanden heraus, dass Duerson aufgrund der zahlreichen Gehirnerschütterungen erkrankt war. "Er wusste, dass mit seinem Gehirn etwas nicht in Ordnung war", sagt seine Frau Alicia, "an den Tagen vor seinem Freitod im Alter von 50 Jahren vergaß er die einfachsten Dinge."

Das Spektakel mit dem Ei ist offensichtlich zu lukrativ, signifikante Änderungen würden das Geschäft gefährden. Die NFL nimmt pro Saison mehr als zehn Milliarden US-Dollar ein, die TV-Rechte sind drei Milliarden Dollar wert, das letzte Endspiel sahen mehr als 111 Millionen Amerikaner. Die Menschen sehen auch deshalb zu, weil Football ein gewalttätiger Sport ist. Frank Bruni schrieb in einem Kommentar für die New York Times, dass er stundenlang in einer Bar gesessen sei und sich Footballspiele angesehen habe. Er endet mit den Worten: "Etwas fühlte sich am Montag nicht richtig an. Das war nicht mein Hals, sondern mein Gewissen."

Es sind moderne Gladiatorenkämpfe, die beim Football stattfinden - und die Menschen gehen heute ins Stadion, wie sie einst ins Kolosseum gegangen sind.

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