Quilombo nennt man es in Argentinien, wenn mal wieder etwas aus dem Ruder läuft. Wenn Fußballfans den Bus der gegnerischen Mannschaft durchschütteln, Konzert-Zuschauer die Bühne stürmen oder Sechsjährige auf dem Kindergeburtstag die mühsam dekorierten Räumlichkeiten zerlegen: All das ist hacer quilombo, auf den Putz hauen, Unruhe stiften, ein bisschen Ärger machen.
Allein die Tatsache, dass es für all das ein ganz spezifisches Wort gibt in Argentinien zeigt ja schon, wie sehr der quilombo hier auch Teil der Volksseele ist. Und natürlich kann man Diego Armando Maradona bei all dem nicht außen vor lassen. Er war ja schließlich nicht nur Fußballgott, sondern auch Argentinier. Und wenn man es genau nimmt, dann ist sein ganzes Leben eigentlich ohnehin ein einziger, großartiger, wahnwitziger quilombo gewesen. Auch darum haben ihn die Argentinier so geliebt.
Abschied von der "Hand Gottes":Argentinien und die Welt trauern um Diego Maradona
In Buenos Aires strömen Tausende zum Präsidentenpalast, um ihm die letzte Ehre zu erweisen. Neapel will sein Stadion umbenennen. Der Papst betet. Nur ein Mann soll von der Todesnachricht verschont bleiben.
Doch nun ist Maradona tot und soll beerdigt werden, in seiner Heimat Argentinien. Und spätestens hier muss man dann fragen: Hatte wirklich jemand ernsthaft mit stiller Einkehr und Gravitas gerechnet?
Sicherheits- und Hygieneauflagen sollen gelten, so hat man sich das vorgestellt
Früher Nachmittag, Buenos Aires, Plaza de Mayo. Der Platz liegt im Herzen der argentinischen Hauptstadt, zu Füßen der Casa Rosada, dem "Rosa Haus", das eigentlich der Präsidentenpalast ist, nun aber ein Schrein. Noch in der Nacht haben sie Maradonas Leichnam hierhergebracht und aufgebahrt, damit die Fans "Adios" sagen können, oder besser: "Ad10s", wegen der 10, die immer die Rückennummer von Maradona war.
Sicherheits- und Hygieneauflagen sollen dabei natürlich gelten, so hat man sich das vorgestellt. Die Corona-Kurve in Argentinien hat ja gerade erst aufgehört zu steigen, so soll das bleiben und die Menschen darum auf der einen Seite rein in die Casa Rosada und auf der anderen Seite wieder raus. Dazwischen schnell ein Blick auf den Sarg, nur nicht stehen bleiben. Das war der Plan.
Jetzt aber reicht die Schlange der Menschen bis runter zur Avenida 9 de Julio, drei Kilometer soll sie insgesamt lang sein, heißt es. Ein Meer aus Fahnen und Fußballtrikots. Sprechchöre und Trommeln. Am Straßenrand gibt es Grillfleisch und fettige Würste.
Und natürlich: Es gibt auch Tränen. Genauso wie - natürlich - auch Tumulte. Schon um sechs Uhr morgens ging es damit los, heißt es in den Nachrichten. Rangeleien mit der Polizei, Geschubse, umgeschmissene Absperrgitter, quilombo.
Viele Menschen sind schon seit Stunden hier, im Morgengrauen sind sie losgefahren, in Banfield, Quilmes, Avellaneda und all den anderen Orten im Conurbano, dem Vorstadtgürtel von Buenos Aires, der genauso riesig ist wie oftmals bitterarm. Er habe noch einmal den Diego sehen wollen, sagt Pascual aus La Matanza. "Danke sagen, für alles." Den WM-Sieg, die Freude und den Stolz, dass es auch einer von unten ganz nach oben schaffen kann, von einer Baracke in Villa Fiorito bis in den Präsidentenpalast.
Alle wollen den Leichnam sehen
"Diego, Diego", singen die Fans. Hüpfen, drücken, drängeln. Alle wollen sie den Leichnam sehen, doch um 16 Uhr soll Schluss sein, so hat es sich die Familie von Maradona wohl gewünscht. Als die Polizei dann schon mal die Zugänge abriegeln will, gerät die Situation außer Kontrolle. Tränengas und Wasserwerfer, Sicherheitskräfte feuern mit Gummigeschossen, Fans antworten mit Steinen. Ein paar schaffen es sogar über den Zaun und bis in den Präsidentenpalast, eine Büste geht zu Bruch und das Fernsehen zeigt wackelige Handybilder von Fans mit Fußballtrikots, die sich mit Wasser aus dem Brunnen im Innenhof der Casa Rosada das Tränengas aus dem Gesicht waschen. Quilombo.
Am Schluss muss selbst Diego Maradonas Leichnam in Sicherheit gebracht werden, erst in einen anderen Raum und von dort dann in einen Leichenwagen. Flankiert von Polizisten auf Motorrädern verlässt er die Casa Rosada, doch statt in Richtung der Prachtstraßen der Stadt zu fahren, biegt er ab in Richtung Autobahn, die hoch über den Dächern der Stadt nach Westen führt. Es ist, als ob Diego da schon mal Richtung Himmel gestartet ist, gefolgt von Autos, Mopeds und Motorrädern. Und überall winkende Fans.
Diego Maradona:Adiós, großer Kapitän
Diego Maradona und der Fußball, das sind längst Synonyme. Aber vor allem blieb das tragische Genie stets Argentinier. Seine sentimentale Macht verhalf den Armen zu einem ideellen Sieg über die Reichen.
Es ist noch hell, als der Leichnam dann in Bella Vista ankommt, auch das hat sich die Familie gewünscht. Das Örtchen liegt weit vor den Toren der Stadt. Eine kleine Zeremonie, im engen Familienkreis, dann wird Diego Armando Maradona ins Grab gelassen, es liegt auf einem privaten Friedhof, neben dem seiner Eltern.
Eine viel zu kurze Trauerfeier sei das alles gewesen, sagen später die Kommentatoren im Fernsehen und dass sie die Wünsche der Familie einerseits respektierten. Aber: "Diego gehört eben nicht nur ihnen, sondern auch uns allen." Auch ein Fan beklagt sich: "Bei Evita und Perón haben die Trauerfeiern Tage gedauert. Wir aber hatten nur ein paar Stunden Zeit, um uns von Diego zu verabschieden. Wie soll das gehen?" Andererseits: Die Leiche von Evita wurde nach ihrem Tod entführt und ihrem Ehemann Juan Perón, dem Begründer des Peronismus, immerhin nach seinem Ableben noch die Hände abgehackt. Als man ihn 2006 in ein eigenes Mausoleum umbettete, kam es dann sogar noch mal zu Tumulten, inklusive Messerstechereien und mehreren Verletzten. So gesehen könnte man sagen: Das Begräbnis von Diego Armando Maradona war ein voller Erfolg.
Für Maradona müsste es natürlich der 10-Peso-Schein sein
Im Netz fordern Fans jetzt schon, dass Diego auch auf einen Geldschein gedruckt wird. Evita prangt auf den 100-Peso-Noten, für Diego müsste es natürlich der Schein mit der 10 sein, auch wenn der wegen der Inflation schon fast nichts mehr wert ist.
Eine Zeitung veröffentlicht derweil schon mal eine Liste mit dem vermutlichen Vermögen, das der Fußballer hinterlässt, dazu noch einen Stammbaum mit allen möglichen Erben. Und dann ist da noch der Anwalt von Maradona, der fragt, wieso die Ambulanz erst eine halbe Stunde nach dem Notruf eingetroffen sei: "Kriminelle Idiotie" sei das gewesen. Maradona mag zwar in Frieden ruhen, Ruhe aber, das ist jetzt schon klar, ist noch lange nicht.
Als um 22 Uhr der Stundenzeiger dann genau auf der 10 steht, knallt es tatsächlich noch mal vor dem Fenster. Irgendwo draußen in der Nacht haben Fans ein paar Böller gezündet. Quilombo.