Deutsche Trainer aus Mainz:Comeback der Bruchweg-Boys

Tuchel, Klopp und Svensson, Kombo

Drei aus Mainz: Thomas Tuchel, Jürgen Klopp, Bo Svensson.

(Foto: Adam Davy/Imago; David Klein, Pool via AP; Alex Grimm/Getty Images)

Thomas Tuchel steht zum zweiten Mal hintereinander im Champions-League-Finale, Jürgen Klopp war schon dreimal dort. Aktuell macht die Mainzer Trainerschule wieder auf sich aufmerksam - in Person des Tuchel-Schülers Bo Svensson.

Von Christof Kneer

Fußballtrainer schauen Fußballspiele anders an als normale Menschen. Ob sie dabei auch Chips essen, Bier trinken und die Füße auf den Tisch legen, ist statistisch nicht erforscht, leider, wie man sagen muss, aber wenn man mal einen Tipp wagen sollte: Wahrscheinlich tun sie nichts davon. Wahrscheinlich haben sie ein iPad sowie mehrere Handys neben sich platziert, im Zehn-Minuten-Abstand ruft einer der Co-Trainer an, oder der Videoanalyst schickt einen Screenshot, in dem das Anlaufverhalten der Mannschaft links auf dem Bildschirm erforscht wird.

Manchmal beklagen sich Fußballtrainer darüber, dass sie Spiele nicht mehr unbefangen sehen können, das ist nicht mal kokett, sondern wirklich gemein. Die Romantik ist raus. Es geht den Fußballtrainern wie dem Theaterregisseur, der sich auch nicht einfach zum Kollegen in die Vorstellung setzen kann. Der Regisseur muss dann auch sofort die Massenszene am Ende des ersten Aktes analysieren. Wie hätte ich das wohl inszeniert?

Bo Svensson hat sich am Mittwochabend erst gar keine Mühe gegeben, er wusste ja: Es würde aussichtslos sein. Er würde dieses Champions-League-Spiel auf keinen Fall als neutraler Zuschauer verfolgen können. Dieses Spiel war wie ein Abendspaziergang durch ein Viertel, in dem man mal gewohnt hat: Svensson begrüßte Laufwege und Defensivmuster wie alte Bekannte, und wohlvertraut war ihm auch der Geist, der ihm aus vielen Ecken entgegenwehte. Es fühlte sich fast ein bisschen an wie Mainz, wie früher, im alten Stadion am Bruchweg. Aber das hier war London, die Stamford Bridge, hier spielten der FC Chelsea und Real Madrid.

"Ich fand, das konnte man im Unterschied zu Real Madrid deutlich sehen: dass bei Chelsea alle zehn Spieler demselben Plan folgen, dass alle genau wissen, wann sie mal hoch oder mal tief pressen sollen. Im Spiel gegen den Ball erkenne ich sofort die Mainzer Prinzipien." Bo Svensson, 41, sitzt in der Geschäftsstelle des FSV Mainz 05, er trägt enorme Kopfhörer, und es stört ihn erkennbar überhaupt nicht, dass das Videogespräch jetzt erst mal anders läuft als angekündigt.

Es soll ja eigentlich um ihn gehen, den immer noch neuen Trainer von Mainz 05, und um die aufsehenerregende Kletterpartie, die Svensson gerade mit seiner Mannschaft quer durch die Bundesligatabelle übernimmt. Als Svensson die Elf im Januar übernahm, war sie Vorletzter und beinahe so schlecht wie Schalke 04. Und jetzt ist es wahrscheinlich nur dem nahe rückenden Saisonende zu verdanken, dass die seit Wochen unbesiegten Mainzer nicht bald Fragen nach dem Europacup beantworten müssen.

Es geht jetzt erst mal um Thomas Tuchel in dem Gespräch, den Trainer des FC Chelsea, weniger um Mainz 05 und Bo Svensson. Wobei: Ist das nicht irgendwie dasselbe?

In Person von Thomas Tuchel und Jürgen Klopp ist der FSV Mainz 05 nun schon zum vierten Mal hintereinander ins Champions-League-Finale eingezogen, eine ziemlich irre Serie ist das. Einmal haben die Mainzer dieses Finale sogar gewonnen, 2019, in Person von Jürgen Klopp und im Trikot des FC Liverpool. Das kleine Mainz hat dem großen Fußball zwei prägende Trainer zur Verfügung gestellt. Und Bo Svensson findet, dass das Kleine im Großen immer noch nachweisbar ist.

"Sie können das gut an Kai Havertz erkennen", sagt Svensson, "das ist ein anderer Kai Havertz als der, den man aus Leverkusen kennt oder aus den Monaten in Chelsea, bevor Thomas da war. Der ist extrem viel unterwegs, stellt sich in den Dienst der Mannschaft, opfert sich auf. Und das gilt fürs ganze Chelsea-Team: Bei aller individueller Qualität ist eine klare kollektive Idee festzustellen."

Thomas Tuchel ist nicht mehr der Trainer, der er in Mainz war, er hat zwischenzeitlich Neymar trainiert und Mbappé und sich in Dortmund nicht nur mit Aki Watzke, sondern später auch mit Scheichs und Oligarchen auseinandergesetzt. Aber ein bisschen Mainz ist immer noch in ihm drin, und das geht da auch nie wieder weg - genauso wie in Jürgen Klopp für immer ein bisschen Mainz stecken wird. "Die Mainzer Tugenden", so nennt das Bo Svensson, "alle Spieler, die hierherkommen, müssen wissen, dass man erst mal was in die Gruppe hineingibt, bevor man als Einzelspieler etwas zurückbekommt - und nicht umgekehrt."

So gesehen hat Tuchel Kai Havertz mitten in London zum Mainzer gemacht. Der FC Chelsea spielt jetzt an der Bruchweg Bridge.

Die zweite große Trainerschule im Südwesten geht auf Ralf Rangnick zurück

Vielleicht ist das Tuchels und Klopps Dank an den Standort Mainz, der ihnen einst die Chance gab, Profitrainer zu werden: dass sie dank ihrer internationalen Erfolge nun den großen Bühnenscheinwerfer auf die Mainzer Trainerschule richten. Wenn man es sehr vereinfacht sagen darf, haben sich in den vergangenen zwei Jahrzehnten zwei südwestdeutsche Nischen ums deutsche Trainerwesen verdient gemacht: In Mainz wirkte in den späten Neunzigern der leider oft vergessene Visionär Wolfgang Frank, der dem Liberoland die Raumdeckung und das Pressing zeigte.

Etwa zur selben Zeit begann der Ulmer Zweitliga-Trainer Ralf Rangnick dem Land im ZDF-Sportstudio die fachgerechte Handhabung der Viererkette zu erklären, später installierte er das moderne Modell in der Nachwuchsabteilung des VfB Stuttgart - wo er, und hier beginnt es kompliziert zu werden, seinen ehemaligen Ulmer Spieler Thomas Tuchel als Co-Trainer der U15-Junioren besetzte.

Coaches aus dem Rangnick-Klassenzimmer

Rangnick, vom großen Ukrainer Valeri Lobanowski und dem noch größeren Italiener Arrigo Sacchi beeinflusst, hat die Idee dann von Stuttgart nach Hoffenheim weitergetragen und auf dieser Idee anschließend die sogenannte Red-Bull-Schule errichtet - mit Dependancen unter anderem in Leipzig, Salzburg, New York und Brasilien.

Unzählige aktuelle Trainer sind in irgendeinem Klassenzimmer des sehr weitläufigen Rangnick-Schulgeländes unterrichtet worden, Marco Rose, Adi Hütter, Oliver Glasner, Roger Schmidt, Ralph Hasenhüttl, Domenico Tedesco, David Wagner, Sebastian Hoeneß. Und letztlich auch Julian Nagelsmann, der jetzt zum FC Bayern wechselt und seinen Platz am RB-Standort Leipzig für den Amerikaner Jesse Marsch räumt, der zuvor an den RB-Standorten in New York und Salzburg wirkte.

Grafiker würden an einem Schaubild der beiden Schulen wohl verzweifeln, die Schüler springen immer wieder wild durcheinander. Anders als Klopp, der in Mainz unter Wolfgang Frank spielte und das Spiel durch dessen Augen zu sehen lernte, stammt Tuchel ja eigentlich aus der Rangnick-Schule, wechselte dann aber hinüber in die Bildungsanstalt nach Mainz. Erst dort ist er als junger Trainer mit seinen "Bruchweg-Boys" berühmt geworden: So nannten sich die Spieler Schürrle, Holtby und Szalai, die mit Luftgitarrenjubel die Liga rockten. Ein sehr stilles, aber sehr unverzichtbares Band-Mitglied war der dänische Abwehrspieler Bo Svensson.

Die Bruchweg-Boys sind wieder da, aber auf Tour sind jetzt die großen Jungs. Tuchel und Klopp stehen ganz vorne an der Rampe, und beide verfolgen mit großer Neugier, wie weit es ihr begabtester Schüler wohl bringen wird. "Ich habe Bo schon als Spieler gesagt, dass er mal ein guter Trainer werden kann", sagt Tuchel, der fünf Jahre lang Svenssons Coach war. Tuchel beschreibt den Dänen als "ruhigen und nachdenklichen Spieler, der es sich aufgrund seiner Persönlichkeit auch mal rausgenommen hat, Dinge zu hinterfragen. Er wollte immer erst die Idee verstehen, und dann konnte man sich hundertprozentig auf ihn verlassen".

Thomas Tuchel traut Bo Svensson eine große Trainerkarriere zu

Bo Svensson ist auch deshalb der Trainer der Bundesliga-Rückrunde, weil sich in ihm zwei zentrale Entwicklungen abbilden. Er steht, erstens, für beide Schulen, weil er in Mainz Spieler und Jugendtrainer war und anschließend für anderthalb Jahre nach Österreich zum FC Liefering wechselte, dem Zweitklub von RB Salzburg; und zweitens verkörpert er die Kraft der Nischen.

An ihm zeigt sich, wie praktisch es für einen Verein sein kann, seine Trainer selbst auszubilden und sich im Zweifel aus sich selbst zu erneuern. Als Svensson im Januar aus Liefering nach Mainz zurückkehrte, hat er zur Akklimatisierung keine einzige Sekunde gebraucht. "In einer Fußballwelt, in der Trainer nicht viel Zeit bekommen, ist es sehr gut, wenn neue Trainer den Verein und dessen Philosophie schon kennen", sagt er, "wenn sie von Tag eins an wissen, was gefordert ist und worum es geht."

Tuchel traut Svensson eine große Trainerkarriere zu. "Bo hat sicher die Chance, seinen eigenen Dreh zu finden", sagt er, und deshalb wird er sicherlich auch die Selbstanzeige seines ehemaligen Schützlings akzeptieren, ohne die Behörden einzuschalten. "Ich kann nicht verheimlichen, dass ich die ein oder andere Trainingsübung von Thomas geklaut habe", sagt Bo Svensson und grinst unter seinem großen Kopfhörer.

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