Süddeutsche Zeitung

DHB-Kader:Lust auf Experimente

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Eine Woche vor dem Start der Europameisterschaft in Polen testet das deutsche Team noch einmal eifrig. Bundestrainer Sigurdsson beruft neun Spieler ohne EM-Erfahrung.

Von Joachim Mölter, München

Oliver Roggisch sah am Samstag in Kassel die Zeit gekommen, um ein paar mahnende Worte zu sprechen: "Die Stimmung ist mir schon fast ein bisschen zu gut", sagte der Teammanager des Deutschen Handballbundes (DHB) vor dem ersten von zwei Testspielen an diesem Wochenende gegen Island - den letzten vor der bevorstehenden EM in Polen (15. bis 31. Januar). Die Stimmung war gut, weil die vom Verletzungspech verfolgte deutsche Nationalmannschaft vier Tage zuvor Tunesien überzeugend geschlagen hatte. Am Samstagnachmittag wurde die Stimmung noch ein wenig besser: Deutschland schlug Island mit 26:25. "Wir haben verdient gewonnen, so eine Erfahrung ist für uns im Hinblick auf die EM Gold wert", sagte Torhüter Carsten Lichtlein.

Dabei hatte Bundestrainer Dagur Sigurdsson am Freitag schnell noch einen gewissen Kai Häfner nachkommen lassen in seinen Kader, einen Linkshänder vom TSV Hannover-Burgdorf. Allerdings: Die Berufung sei nicht aus der Not herausgekommen, weil sich die schier unheimliche Verletzungsserie fortgesetzt hätte, welche die DHB-Auswahl vor dem Turnier heimgesucht hat. Mit Häfner habe er bloß "eine weitere Alternative im Rückraum", erklärte Sigurdsson: "Das gibt uns eine zusätzliche Möglichkeit, die Belastung zu verteilen."

Sigurdsson will vor der EM offensichtlich noch ein bisschen experimentieren, auch am Sonntag, im zweiten Spiel gegen Island in Hannover (15 Uhr). Mit Häfner, dem aktuell erfolgreichsten Feldtorschützen der Bundesliga, hat er nun auf jeder Rückraumposition drei Kandidaten zur Verfügung, jeder mit anderen Stärken. Am dringendsten bräuchte das DHB-Team freilich Verstärkung auf Linksaußen, wo nach dem verletzungsbedingten Ausfall von Kapitän Uwe Gensheimer sowie dessen Hintermännern Matthias Musche und Michael Allendorf nur noch Rune Dahmke übriggeblieben ist - und dessen Sprunggelenk ist lädiert.

Deutschland hat einen breiten Kader - nur keinen tauglichen Linksaußen

"Deutschland hat eine riesengroße Breite an Spielern", hat Sigurdsson während der EM-Vorbereitung zwar erinnert. Aber für die Linksaußen-Position findet sich momentan kein turniertauglicher Mann mehr, Häfner ist es sicher auch nicht: Linkshänder sind auf der linken Außenseite ja ganz schlecht postiert (Rechtshänder auf Rechtsaußen übrigens auch), weil sie mit ihrem Wurfarm einen extrem spitzen Winkel zum Tor haben.

Bundestrainer Sigurdsson beruft neun Neue

Dagur Sigurdsson ist überzeugt von seinem Kader, die Ergebnisse der Vorbereitung geben ihm recht. Dabei haben ganze neun Spieler in seinem vorläufigen Aufgebot keine Erfahrung bei internationalen Turnieren. Die Neuen im Kurzporträt. (Foto: Deniz Calagan/dpa)

Andreas Wolff, 24, Torwart

Stand bereits bei der WM 2015 im erweiterten Kader; gilt als künftige Nummer eins im deutschen Tor: Rekordmeister THW Kiel holt ihn im Sommer von der HSG Wetzlar zu sich.

Rune Dahmke, 22, Linksaußen

Im November 2015 bislang letzter Debütant unter Sigurdsson; drei Länderspiele, aber trotzdem internationale Erfahrung - beim THW Kiel in der Champions League.

Christian Dissinger, 24, linker Rückraum

Junioren-Weltmeister 2011 und dabei als wertvollster Spieler des Turniers ausgezeichnet; Kreuzbandrisse in beiden Knien warfen ihn weit zurück, knüpft jetzt beim THW Kiel an die Erwartungen an, die man einst in ihn gesetzt hat. Am Samstag gegen Island gelangen ihm acht Tore - wie bereits im Testspiel gegen Tunesien.

Finn Lemke, 23, linker Rückraum

Mit 2,10 Meter der Größte im Aufgebot; aktuell beim SC Magdeburg, Teilnehmer bei Junioren-EM und -WM - allerdings ohne Medaillen-Erfolg.

Jannik Kohlbacher, 20, Kreis

Der Jüngste im Team, mit 113 Kilo aber beileibe kein Leichtgewicht; wie Spielmacher Simon Ernst zwei EM-Titel mit der deutschen U18 und U20; wie Torhüter Andreas Wolff bei der HSG Wetzlar gereift.

Niclas Pieczkowski, 26, Rückraum-Mitte

Spätentwickler von der TuS N-Lübbecke; DHB-Debüt im April 2015, ohne zuvor die Nachwuchsteams durchlaufen zu haben.

Fabian Wiede, 21, rechter Rückraum

Von Sigurdsson selbst bei den Füchsen Berlin ausgebildet worden, seit 2010 jedes Jahr bei einem Titelgewinn dabei - von der deutschen B-Jugendmeisterschaft über die U20-EM bis hin zur gewonnenen Klub-WM.

Simon Ernst, 21, Rückraum-Mitte

Hochtalentierter Spielmacher beim VfL Gummersbach, zwischen 2012 und 2015 bei jedem internationalen Nachwuchs-Turnier dabei, Europameister 2012 mit der U18- und 2014 mit der U20-Auswahl des DHB (Fotos: Getty Images).

Kai Häfner, 26, rechter Rückraum

Junioren-Weltmeister 2009, EM-Zweiter bei den Junioren 2008; aktuell für den TSV Hannover-Burgdorf bester Feldtorschütze der Bundesliga (Foto: Deniz Calagan/dpa).

Trotz der diversen Verletzungsprobleme hat Dagur Sigurdsson aus der riesengroßen Breite an Spielern hierzulande noch 17 gefunden, mit denen er die EM angehen will. Das ist sogar einer mehr als nötig: Jedes Land darf nur mit 16 Akteuren ins Turnier starten. Egal, wen der Isländer zuletzt noch streicht - die Hälfte seiner Mannschaft werden EM-Neulinge sein. Sorgen wegen fehlender internationaler Erfahrung oder übergroßer Nervosität macht sich Sigurdsson nicht. "Die spielen in der Bundesliga immer vor vollen Hallen, die sind den Druck gewohnt. Viele andere Länder haben das nicht", sagt er und versichert: "Ich glaube, dass sie bereit sind."

So ganz ohne internationale Turnier-Erfahrung sind die meisten Debütanten ja sowieso nicht. Und außerdem hat der Isländer bereits nach der WM 2015 in Katar damit angefangen, junge Handballer dazu zu holen in seine Auswahl. Davon könnte die deutsche Mannschaft nun profitieren.

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SZ vom 10.01.2016
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