Noch am Montag hatte Maximilian Arnold einer Woche entgegengesehen, die ihm die Begegnung mit seiner unerfüllten Sehnsucht versprach. Während er am Dienstag um 10:30 Uhr mit der Restbesatzung des VfL Wolfsburg die Vorbereitung für ein Testspiel gegen den Zweitligisten Hansa Rostock aufnehmen würde, sollte zur gleichen Stunde gleich nebenan auf Übungsplatz D die Nationalmannschaft zum ersten Training für das Länderspiel gegen Liechtenstein zusammenkommen.
Die Nationalmannschaft und Maximilian Arnold, das ist die Geschichte eines vergeblichen Verlangens. Seit sieben langen Jahren hofft der Mittelfeldspieler des VfL Wolfsburg darauf, dass seiner ersten Einladung ins DFB-Team eine zweite folgen könnte, doch der Einsatz in einem torlosen Testspiel gegen Polen vor der WM 2014 ist bisher - abgesehen von einem Exkurs zur U21 - sein einziger Einsatz für Deutschland geblieben. Als er im Frühling trotz auffällig vorzeigbarer Leistungen wieder nicht nominiert wurde, äußerte Arnold, 27, einen Satz, der immer noch zu Herzen geht: "Wenn ich mitgefahren wäre, hätte es keinem wehgetan. Ich kann es nicht verstehen."
Nun aber erhielt Arnold den Anruf, auf den er so lang gewartet hatte. Bundestrainer Hansi Flick hatte seinen VfL-Kollegen Florian Kohfeldt am Dienstagmorgen um die Freigabe für Arnold und dessen Mitspieler Ridle Baku gebeten, die beiden sollen - beziehungsweise dürfen - das Nationalteam komplettieren, das quasi über Nacht erheblich dezimiert worden war: Das Glück der spätberufenen Arnold und Baku - ein weiterer Nachrücker ist der aus Monaco herbeizitierte Kevin Volland - folgt auf das Unglück des am Montagabend positiv auf das Coronavirus getesteten Münchners Niklas Süle und einer vierköpfigen Gruppe in seinem Gefolge. Zwar fielen die Prüfungen bei den vier Spielern negativ aus, doch weil die Behörden sie als Kontaktpersonen ersten Grades einordneten, mussten auch Joshua Kimmich, Serge Gnabry, Karim Adeyemi und Jamal Musiala das Teamhotel und die Stadt Wolfsburg umgehend verlassen. Der FC Bayern teilte zudem mit, dass Angreifer Eric Maxim Choupo-Moting als Kontaktperson in Quarantäne müsse.
Die Ansteckung des vollständig geimpften Süle und die Folgen für seine Reisegesellschaft schüren die Debatte um den Schutz vor Covid-19 im Sport
Man darf annehmen, dass es am Montagabend auf einmal ziemlich hektisch wurde im Ritz Carlton in Wolfsburg, nachdem Süles Ergebnis vorlag. Die Tests, zunächst als Pooltests für jeweils sechs Spieler angelegt, sind als Vorsichtsmaßnahme vorgesehen, nun war der erweiterte Ernstfall eingetreten. Beschwerden weist Süle zum Glück keine auf.
Warum lediglich die genannten Vier und nicht auch die vier weiteren Passagiere des in München gestarteten Privatflugzeugs den Heimweg antreten mussten, mochten die Autoritäten des DFB, die am Dienstag auf der Pressekonferenz über den Stand der Dinge informierten, nicht beantworten. Gefragt, ob außer dem bekanntermaßen nicht geimpften Kimmich auch Gnabry, Musiala und Adeyemi noch keine Impfung erhalten hätten, verwies DFB-Mannschaftsarzt Tim Meyer auf die Schweigepflicht. Die Anordnung des zuständigen Gesundheitsamtes in München beziehe "mehrere Aspekte ein", erklärte der Professor, der Impfstatus sei einer von ihnen.
Die Ansteckung des vollständig geimpften Süle und die Folgen für seine Reisegesellschaft schüren die Debatte um den Schutz vor Covid-19 im Profifußball und im Sport, das war spätestens in dem Moment ersichtlich, als statt eines hoffnungsvollen Nationalspielers der Internist und Corona-Experte Meyer auf dem Podium Platz nahm. Meyer hatte während des ersten Lockdowns im Frühjahr 2020 den Plan entworfen, der die stillgelegte Bundesliga zurück aufs Spielfeld brachte, er kennt die politische Dimension seiner Arbeit. Auch Kimmich dürfte sich auf der langen Rückreise in einer Limousine des DFB-Fahrdienstes (jeder Spieler musste einzeln nach Hause gefahren werden) damit beschäftigt haben, dass die Diskussion um seine Ansichten zur Corona-Abwehr womöglich von vorn beginnen wird. Seit er sich nach einer offenbar gezielten Indiskretion zu seinem Impfstatus bekannt hat, kennt er die enorme politische Wirkung des Themas.
Im DFB-Lager in Wolfsburg geht der Betrieb erstmal weiter wie geplant. Das Training wurde vom Vormittag auf den Nachmittag verschoben. Manuel Neuer, Thomas Müller, Leroy Sané und Leon Goretzka, die Verbliebenen aus der Münchner Reisegruppe, durften unter gewissen Vorkehrungen teilnehmen. Die Situation sei "nicht leicht", sagte DFB-Direktor Oliver Bierhoff, "ich habe aber jetzt auch keine Riesenbetroffenheit gesehen, sondern eine recht entspannte Atmosphäre und ein entspanntes Handeln."
Am Sonderprogramm des Wolfsburger Festspiels soll der Vorfall nichts ändern. Die drei Punkte für die WM-Qualifikation, die am Donnerstagabend in der Begegnung mit Liechtenstein vergeben werden, bleiben nicht nur deshalb ein Randaspekt, weil die Deutschen längst qualifiziert sind. Im Mittelpunkt des Abends steht der Salut für Flicks Vorgänger Jogi Löw, den der DFB vor dem Spiel hochleben lassen möchte. Als Partygäste haben sich unter anderen Lukas Podolski, Miroslav Klose und Per Mertesacker angesagt. Die eigentliche Feier findet später im Hotel statt.
Hier und da ist der Verband schon dafür kritisiert worden, dass die Bühne für den Abschiedsakt am Rande eines Spiels gegen den bescheidenen Gegner Liechtenstein aufgebaut wird, doch es war Jogi Löw, der sich bisher gegen eine Veranstaltung zu seinen Ehren gewehrt hatte. Er habe Flick die Aufmerksamkeit überlassen wollen, heißt es beim DFB, aber das ist wohl nur das halbe Motiv: Es ist keine von Löws Vorlieben, in den Mittelpunkt geschoben zu werden. Trotzdem wird es ihm nicht recht sein, dass sich vorerst nun wieder das Thema Corona in den Vordergrund gedrängt hat.