Den Beginn eines Fußballjahres, in dem ein großes Länder-Turnier ansteht, kann Thomas Müller körperlich spüren. "Da kribbelt's ein bisschen", berichtete der Münchner Nationalspieler, dessen zahlreiche Kribbel-Erfahrungen ihn längst in den Status eines Alt-Internationalen versetzen. Als Gast der täglichen Medienveranstaltung des DFB vor dem Test-Länderspiel gegen Israel am Samstag (20.45 Uhr in Sinsheim) erzählte Müller jetzt in bewährt ausführlicher Müller-Manier von seinen vielfältigen Turnier-Erlebnissen seit der Debüt-WM 2010 in Südafrika.
Er räumte dabei einen gravierenden Irrtum ein: Seine optimistische Prognose zum Erfolg der Nationalelf bei der WM 2018 in Russland ("Da steht eine Mannschaft auf dem Platz, die was reißen kann.") stimmte mit dem Resultat nicht mal geringfügig überein. Er könne sich, sagt er nun, "nur an wenige Spieler erinnern, die aus dieser schwachen Mannschafts-Performance hervorgestochen" hätten.
Stefan Kuntz im Interview:"Als meine Tränen gezeigt wurden, musste der Reporter mitheulen"
Der türkische Nationaltrainer Stefan Kuntz spricht vor dem WM-Qualifikationsspiel in Portugal über den Charakter seines Teams, darüber, wie er mit Emotionen umgeht - und welche Erwartungen herrschen, wenn man als Deutscher die Türkei trainiert.
Ausdrücklich zählt Thomas Müller sich selbst nicht zu den wenigen positiven Ausnahmen, aber wenn er einen Namen hätte nennen sollen, dann wäre ihm vermutlich Julian Brandt eingefallen. Während Müller Russland vor knapp vier Jahren mit ramponiertem Ansehen verließ, war der damals 22-jährige Brandt ein Spieler, der auf bessere Zeiten hoffen ließ.
Vier Jahre später sieht das aber wieder ganz anders aus: Da erörtert Müller aus der Position des Senior-Chefs die Erwartungen an das WM-Turnier im November in Katar, und Julian Brandt gelangt lediglich durch eine Art Schlupfloch ins Team-Quartier am Frankfurter Stadtrand. Trainer Hansi Flick nahm ihn erst nachträglich auf die Gästeliste - als ersten und einzigen aktuellen Teilnehmer von Borussia Dortmund -, nachdem die Team-Ärzte Serge Gnabry (FC Bayern) wegen eines grippalen Infekts nach Hause geschickt hatten.
Auch bei den Mitspielern fallen die Reaktionen zwar wohlwollend, aber gemischt aus
Außer dem vom DFB bestellten Bundestrainer wären wohl nicht viele seiner 80 Millionen inoffiziellen Kollegen hierzulande derzeit auf den BVB-Mittelfeldspieler Brandt gekommen. Und zwar aus eben jenen Gründen, die Verteidiger Matthias Ginter zur Sprache brachte, als er um eine Stellungnahme zu Brandts Nachnominierung gebeten wurde. "Er ist ein sehr, sehr talentierter Spieler", sagte Ginter, bevor er die Hoffnung formulierte, "dass er seine Qualitäten, die außer Frage stehen, auf den Platz bekommt".
Besser als der Mönchengladbacher Abwehrspieler hätte es kein Marcel Reif-Ranicki und kein Loddarmadäus formulieren können. Aus Ginters Einschätzung zu Brandt klangen Sympathie und Anerkennung, aber auch das Bedauern, einen bald 26-jährigen Kollegen als "Talent" bezeichnen zu müssen, der zu selten zeigt, was er kann. Oder, wie zuletzt bei Dortmund, nur noch als Einwechselspieler die Gelegenheit dazu bekommt.
Im Teamhotel traf Brandt am Mittwoch auf einen Mitspieler, der ähnlich gemischte Reaktionen hervorruft: Auch Julian Draxler, 28, wird nicht nachgesagt, dass er aus seiner Begabung und Karriere - sportlich betrachtet - das Maximum herausgeholt hätte. So eint die beiden Julians in diesen Tagen zweierlei: der Ruf als unerfülltes Versprechen - und die Aussicht auf eine letzte Chance, sich beim aktuellen Lehrgang des Nationalteams für die Aufnahme in den WM-Kader zu empfehlen.
Der fleißige Bundestrainer Flick hat in den vergangenen Wochen nicht nur mit sehr vielen Leuten telefoniert (unter anderem mit Brandt, um ihm zu sagen, dass er diesmal zu Hause bleiben müsse, weil Draxler den Vorzug bekomme), er hat auch etliche Bildungsreisen unternommen. Eine dieser Touren führte ihn zum Champions-League-Spiel nach Madrid, wo er Zeuge des Untergangs von Paris Saint-Germain bei Real wurde.
Draxler, seit fünf Jahren PSG-Profi, spielte auch mit - er kam in der 88. Minute aufs Feld, als eine kopflose Pariser Elf schon 1:3 zurücklag. Flick hebt wie zur Entschuldigung die Schultern, wenn er Draxlers Rolle in diesem sehr speziellen Sportklub beschreibt: "Er kommt ein paar Minuten vor Schluss und soll dann irgendwo einspringen, unter Umständen rechts hinten." Und gelangt Draxler mal in Ballbesitz, besteht die Aufgabe nicht unbedingt darin, mit dem Ball das Beste anzufangen - sondern ihn zügig bei Neymar, Messi oder Mbappé abzuliefern.
Das Karriere-Problem hat Draxler selbst gewählt, als er im vorigen Sommer den nächsten Vertrag in Paris gegenzeichnete. Er hat diese Saison zwar - trotz längerer Verletzungsdauer - an 18 von 29 Liga- und an vier von sieben Europapokalspielen mit PSG teilgenommen. Doch das statistische Bild trügt: Oft bekam er nur eine Handvoll Einsatzminuten. Und dennoch, um es mit Ginter zu sagen: Draxlers Qualitäten stehen außer Frage. Zu Zeiten von Mesut Özil, Philipp Lahm und Bastian Schweinsteiger hat Jogi Löw erklärt, er habe keinen fußballerisch besser ausgestatteten Spieler im Kader als Julian Draxler. Flick sieht es heutzutage zumindest ähnlich, nachdem er den 28-Jährigen wieder im Training beobachten konnte. Draxler sei einer jener Spieler, deren besonderes Können auf Anhieb zu erkennen sei.
Eine Nationalelf, die in der Offensive von den Stammspielern Brandt und Draxler angetrieben wird, ist bei der WM in Katar vermutlich nicht zu erwarten. Aber Flick und sein Trainerteam schauen bei ihren Dispositionen weniger auf die Einsatzzeiten der Spieler in ihren Klubs, als vielmehr darauf, dem Kader ein Repertoire für alle Lebenslagen zu verpassen. Noch ist es für niemanden zu spät, schon gar nicht für so gesegnete Fußballer wie Julian Brandt und Julian Draxler.