Süddeutsche Zeitung

DFB-Team:Nachhilfe vor dem Flip-Chart

  • Das DFB-Team braucht in den abschließenden EM-Qualifikationsspielen gegen Weißrussland und Nordirland vier Punkte, um am Turnier kommenden Sommer teilzunehmen.
  • Das Team von Bundestrainer Joachim Löw muss dabei weiter zahlreiche Verletzte kompensieren.
  • Joshua Kimmich und Timo Werner wollen das allerdings nicht als Ausrede gelten lassen.

Von Ulrich Hartmann, Düsseldorf

Vor dem vermeintlich leicht zu lösenden Heimspiel gegen Weißrussland am Samstag in Mönchengladbach muss Bundestrainer Joachim Löw seine Nationalspieler dringend noch mal vor einem Flip-Chart versammeln. Thema: "Die Grundrechenarten". Seine jungen Burschen Joshua Kimmich und Timo Werner zum Beispiel haben den komplexen Dreisatz "In welchem Fall wäre Deutschland sicher für die EM qualifiziert?" bislang nicht zuverlässig studiert. "Wenn wir am Samstag gewinnen, sind wir doch durch, oder nicht?", fragte Kimmich am Donnerstag auf dem Podium eines Düsseldorfer Hotelsaals - und wurde von allerhand Experten im journalistischen Publikum eines Besseren belehrt.

"Egal, wir wollen eh sechs Punkte holen", antwortete Kimmich lakonisch und nahm zu seiner Ehrenrettung die finale Qualifikationspartie gegen Nordirland (Dienstag in Frankfurt) gleich mit in die Rechnung. Für den Mittelfeldspieler des FC Bayern ist die EM-Qualifikation sowieso keine mathematische, sondern eine fußballerische Herausforderung.

Eine Viertelstunde später saß der Leipziger Stürmer Timo Werner auf dem Podium und sagte: "Meine Info ist: Wenn wir gewinnen, sind wir durch." Als Werner erfuhr, dass dazu im Parallelspiel überdies erforderlich wäre, dass Nordirland nicht gegen die Niederlande gewinnt, sagte er: "Das werden die Holländer schon schaffen, schließlich spielen sie ja zu Hause ... was, stimmt auch nicht?" Jetzt musste Werner doch lachen, zumal sich um die Lösung des tabellarischen Dreisatzes im deutschen Team eigentlich niemand sorgt.

Fast eine komplette Elf fehlt

Vier Punkte gegen Weißrussland und Nordirland, die man im Hinspiel auswärts jeweils 2:0 besiegt hatte, sind noch nötig, um definitiv bei der paneuropäischen EM im nächsten Sommer mitspielen zu dürfen. Dazu braucht es keine Rechenkünste, sondern, wie Timo Werner betonte, "gegen sehr körperbetont" spielende Weißrussen erst mal einfach eine seriöse Leistung.

Dass der deutschen Mannschaft zu diesem Zweck so viele verletzte Spieler fehlen, dass man damit fast eine komplette Elf aufstellen könnte, irritiert Werner ebenfalls nicht: "Wir haben keine Probleme mit guten Spielern", sagte er und dachte dabei auch an die Position seines Freundes Kimmich - beide kennen sich aus der Jugend des VfB Stuttgart, seit sie zwölf Jahre alt waren. Kimmich scheint im defensiven Mittelfeld bei Löw gesetzt zu sein, er hat in Toni Kroos und Ilkay Gündogan aber zwei ernst- und namhafte Konkurrenten. Kimmich hat jedoch momentan die Nase vorne. In der Bundesliga ist er der Spieler mit den meisten Ballkontakten (knapp 100 pro Spiel) und Kilometern (12,2 pro Spiel).

Kimmich und Werner waren neben Manuel Neuer und Kroos die einzigen beiden Spieler, die bei der WM 2018 in allen drei Spielen in der Startelf gestanden hatten. Trotz des Debakels in Russland sind alle Vier nun maßgeblich am Wiederaufbau beteiligt. Kimmich sieht eine relevante Veränderung zu 2018 in einer jetzt flacheren Mannschafts-Hierarchie, in der "jetzt jeder Einzelne Verantwortung übernehmen muss". Er sagt: "Ich habe nicht das Gefühl, dass es momentan eine Grüppchenbildung gibt." Eine solche hatte man für das Scheitern in Russland mitverantwortlich gemacht. Werner sagt: "Die Stimmung in der Mannschaft ist nicht schlecht."

Überschwang klingt allerdings anders, und vielleicht hat der Bundestrainer auch deshalb das Gefühl, sein Team gegen Weißrussland zu einer Geisteshaltung animieren zu müssen, die in der Fußballbranche "Mentalität" genannt wird. Löw hat diese Vokabel vermieden. Er forderte zuletzt mehr "Robustheit" im deutschen Spiel, woraufhin der Ausrüster Adidas zwei Nationalspielern gleich mal härtere Explosivlaute aufs Trikot geflockt hat: "Hecktor" und "Waltschmid" stand auf den neuen Hemden von Jonas Hector und Luca Waldschmidt, aber das war nur ein Versehen, eine "technische Panne", wie es hieß.

Eine solche sollte sich die DFB-Elf gegen Weißrussland nicht leisten. Falls sie verliert und zeitgleich Nordirland die Niederlande besiegt, wird das finale Gruppenspiel in Frankfurt gegen Nordirland doch noch ein Endspiel um die EM-Teilnahme. So ein Nervenspiel würde man sich gern ersparen - Löw könnte das den Spielern auf dem Flip-Chart noch mal vorrechnen.

Die deutschen Hoffnungen ruhen daher auch auf den Fähigkeiten des Stürmers Werner, der in elf Ligaspielen elf Mal getroffen hat - und findet, dass er sich unter dem neuen Trainer Julian Nagelsmann in Leipzig "gerade gegen tief stehende Mannschaften extrem verbessert" habe. Dieses Qualitätsplus könnte gegen Weißrussland erforderlich werden. Werner strebt bei einem "hoffentlich klaren Sieg" selbst zwei Tore an, und er hofft, dass sich nach dem Schlusspfiff die Rechenaufgaben endgültig erledigt haben werden.

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Quelle:
SZ vom 15.11.2019/schm
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