Süddeutsche Zeitung

DFB-Team:Flaute am Fernseher

Nie zuvor in 14 Jahren Löw-Amtszeit wurde ein Länderspiel von so wenigen TV-Zuschauern verfolgt wie das 3:3 im Test gegen die Türkei. Der Bundestrainer steckt in einem Dilemma.

Von Philipp Selldorf, Köln

Der 7. Oktober 2020 ist gewiss kein Datum in der Geschichte der Nationalelf, an das der DFB im Rahmen einer Feierstunde in 25 Jahren erinnern wird. Es markiert einen dieser Anlässe, den es halt auch gegeben hat in der 112-jährigen Länderspielgeschichte. Im Leben einzelner Beteiligter allerdings hat das 3:3 beim Freundschaftstreffen des deutschen und des türkischen Nationalteams tiefe Spuren hinterlassen. So erfreute sich Kenan Karaman besonders daran, dass er mit seinem Ausgleichstor in der Nachspielzeit zwei Völker auf einmal froh gemacht hatte: das türkische und das düsseldörfliche. In Köln treffe er besonders gerne, hob der Angreifer von Fortuna Düsseldorf nicht ohne Häme hervor. Für Kölner Fußballpatrioten kam es sogar noch schlimmer: Just auf ihrem heiligen Rasen feierten zwei Gladbacher Borussen ihren Einstand, Florian Neuhaus und Jonas Hofmann, und auch der dritte Debütant - Dortmunds Mo Dahoud - ist kraft Herkunft Angehöriger des rivalisierenden Fohlenclans.

Drei Betriebsanfänger auf einmal, das ist selten ein Zeichen für die hohe Wichtigkeit eines Länderspiels, und es wird so manchen Betrachter geben, der neben der sportlichen Dringlichkeit der Partie auch deren Güteklasse bezweifelt. Nicht erst seit Mittwochabend ist aus der konstant kritischen öffentlichen Wahrnehmung ein für den DFB beunruhigender Trend entstanden: Nicht einmal sechs Millionen saßen vor den Fernsehern - weniger sind es bei einem Länderspiel in 14 Jahren mit dem Bundestrainer Jogi Löw nie gewesen. Die Beschwerde über die Nominierung einer B-Besetzung, die der Alt-Internationale Lothar Matthäus so laut vorbrachte, als klage er im Namen des Volkes den Bundestrainer des Hochverrats an, beschreibt zudem das Dilemma: Einerseits war der DFB aufgrund seiner Verpflichtungen gegenüber dem europäischen Fußball-Verband Uefa und seinen Vertragspartnern genötigt, vor den beiden Pflichtspielen in der Nations League - am Samstag in der Ukraine, am Dienstag in Köln gegen die Schweiz - auch noch ein Testspiel ins Programm zu nehmen. Andererseits ist es dem Stammpersonal, vorweg den höchst beschäftigten Münchner Bayern, nicht zuzumuten, drei Partien binnen sieben Tagen zu bestreiten. So sahen die sechs Millionen einen Experimentalfilm mit unvermeidlichen Brüchen im Geschehen, der wegen Karamans 3:3 nicht mal ein glückliches Ende nahm.

Für Florian Neuhaus allerdings stellt der vermeintlich unscheinbare 7. Oktober den "größten Tag der Karriere" dar, eine Wertung, in der sowohl etwas Überraschendes als auch etwas Rührendes steckte. Überraschend, weil das trotz 300 Zuschauern immer noch erschütternd leere Kölner Stadion einen Ort der Melancholie bildete, und weil das Spiel längst nicht so aufregend ausgesehen hat wie das Resultat verheißt. Rührend, weil Neuhaus die Einwände komplett egal waren, da er an diesem Abend sein erstes Länderspiel spielen durfte. "Davon träumt jedes Kind", sagte er. Es ist kein Satz, den nicht schon andere Fußballer vor ihm gesagt haben, aber das nimmt ihm nicht das emotionale Gewicht.

Zu den Riten bei der Einführung von Neulingen gehört es, dass der Bundestrainer anschließend ein Urteil über den Kandidaten abgibt. Bisher hat Joachim Löw noch nie "einmal und nie wieder!" ausgerufen, doch er hat schon öfter gesagt, der Spieler XY habe "seine Sache ordentlich gemacht", und das bedeutete dann selten den Start einer großen Länderspielkarriere. Zu Neuhaus' Premiere fielen dem Coach hingegen so viele Komplimente ein, dass ein Wiedersehen gewiss ist: "Gute Aktionen, ballsicher, mit Tempo durchs Mittelfeld gegangen" - lauter Akzente, die in Löws fußballerischem Weltbild Rang haben. Außerdem galt es noch, das Tor zum 2:1 zu würdigen und jene Szene vor dem türkischen 2:2- Ausgleich zu entschlüsseln, in der Neuhaus zurückblieb wie jemand, der vom Sekundenschlaf gekostet hat. Doch erstens, befand Löw, sei dem Treffer ein Foul des türkischen Angreifers Karacak vorausgegangen, zweitens hätte man Neuhaus nicht auf diese Weise anspielen dürfen. Die These vom Regelverstoß ließe sich mit dem Fachbegriff internationale Härte kontern; dass Jonathan Tahs Pass auf Neuhaus der falsche Pass war, steht außer Frage.

Von einigen der Spieler, die am Mittwoch öfter zum falschen Pass neigten, hat sich Löw fürs Erste prompt getrennt. Nico Schulz, Benjamin Henrichs, Mo Dahoud, Niklas Stark und Nadiem Amiri werden nicht der Delegation angehören, die in die Ukraine reist. An ihre Stelle treten die Stammkräfte aus dem Hause Bayern München, die Leipziger Marcel Halstenberg und Lukas Klostermann und die Expats Timo Werner und Toni Kroos. Das Manöver hat den Charakter eines Schichtwechsels. Es rücken jetzt die Spezialisten an, die in einer Art Kommandoaktion auf dem schnellsten Weg die drei Punkte aus dem Risikogebiet holen sollen (ein einziger deutscher Journalist begleitet die Gruppe).

Löw hat für diese Operation einen zweigeteilten Kader für unterschiedliche Ebenen und Ansprüche konzipiert, er wird das im November und März bei den nächsten Drei-Spiele-Runden aus den gleichen ökonomischen Gründen sicherlich wieder tun, aber niemand braucht das mit einem in alle Richtungen offenen Konkurrenzkampf und hartem Wettbewerb zu verwechseln. Die Auswahl des Kaders für die Europameisterschaft 2021 dürfte schon jetzt in weiten Teilen entschieden sein. Zählt man all die etablierten Bayern, Leipziger, Dortmunder und Auslandsprofis zusammen und garniert das Ganze mit drei Torhütern, dann finden sich nicht mehr als ein, zwei offene Planstellen für hintere Plätze. Der Borusse Neuhaus hat dafür ein paar Argumente sammeln können, und wer weiß? Womöglich werden die Deutschen eines Tages dankbar sagen: Am 7. Oktober 2020 hat für unseren Florian alles angefangen.

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Quelle:
SZ vom 09.10.2020
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