DFB-Stürmer:Müller ist vom Instinkt verlassen

Germany v Italy - Quarter Final: UEFA Euro 2016

Immer noch kein Tor für Thomas Müller.

(Foto: Alexander Hassenstein/Getty Images)

Sein naturbelassener Fußball hat Thomas Müller weltweit einzigartig gemacht - aber bei dieser Fußball-EM macht ihm genau dieser Stil Probleme.

Von Christof Kneer, Évian

Lange genug hatte sie ja gedauert, diese unsägliche, unerträgliche Debatte, aber jetzt würde sie ja gleich zu Ende sein. Jetzt würde man wieder mal zu sehen bekommen, wie ein Torjäger mit so etwas umgeht, mit diesem erbärmlichen Minutenzählen und diesem lächerlichen Krisengerede. Ein Torjäger kontert so was mit einem Tor, so sieht's nämlich aus, also holte Thomas Müller aus, zielte und schoss. Der Ball flog in Richtung Toreck, und es würde die Erleichterung und den Triumph nur noch größer machen, dass da ein Italiener beim Versuch der Rettung hilflos durchs Bild flog. Es war ein spektakulärer Hecht, den Alessandro Florenzi da hinlegte, und das Spektakulärste daran war, dass er mitten im Flug den Ball mit der Hacke berührte. Und am Tor vorbeilenkte.

Es wird Thomas Müller nicht trösten, dass dies eine Abwehraktion war, die man selbst als Italiener im Training eher nicht einstudiert. Es war genau die Szene, die Müller gebraucht hätte, ein 1:0 im EM-Viertelfinale gegen Italien - wer den Fußball gut kennt, der weiß: Wenn dieses Tor gefallen wäre, dann hätte Thomas Müller in der anschließenden Elfmeter-Lotterie keine Niete gezogen.

Und wer den Fußball noch besser kennt, der ahnt, dass es zur Elfmeterlotterie dann vielleicht gar nicht gekommen wäre. Deutschland hätte dann womöglich nach 90 Minuten gewonnen, und die Zeitungen hätten hinterher geschrieben, dass er halt scho' a Hund is', der Müller, der sich seine Tore für die g'scheiten Momente aufspart. Gegen Nordirland treffen, a geh': Da kann's doch jeder.

"Unglaubliche" Laufleistung gegen Italien

Weil dieses Tor aber wieder nicht gefallen ist, muss Joachim Löw seit Wochen dieselben Sätze sagen. Er kriegt sie vielleicht nicht ganz wortgleich hin, die Sätze, aber sie ähneln sich doch sehr. Nein, er mache sich keine Sorgen um Müller. Unglaublich viel investiere der in die Mannschaft, "unglaublich" sei etwa die Laufleistung gegen Italien gewesen. Er kenne Müller nun wirklich schon lange, der lasse sich von solchen Dinge nicht runterziehen. Und er habe das Gefühl, meinte Löw an diesem Montag, "dass er dann ein Tor macht, wenn er's wirklich braucht". Wenn er's wirklich braucht: Das wäre dann jetzt, im Halbfinale gegen Frankreich.

Im Moment wirkt es, als starte Thomas Müller, 26, noch mal in eine neue Karriere. Es ist eine Karriere, wie sie weltweit alle Fußballprofis kennen, außer ihm halt, eine ganz normale Karriere, in der man mal sehr gute, mal gute und auch mal nicht so gute Phasen hat. Nicht so gute Phasen kennt Müller eigentlich kaum. Er ist vor ein paar Jahren vom Trainer Louis van Gaal erschaffen und mit dem Taufspruch "Müller spielt immer" in die Welt entlassen worden, und, ja gut, so war's dann halt auch. Müller hat immer gespielt, und nicht viel weniger als immer hat er auch seine Tore geschossen.

Nun ist Müller bei dieser Europameisterschaft seit fünf Spielen ohne ein Tor, das ist erstens nicht schlimm und kann zweitens mal vorkommen, aber das Problem ist, dass man es ihm allmählich anzusehen scheint. Vor den Kameras gibt er weiter den lässigen Kerl, der es sich locker leisten kann, nicht an sich, sondern nur an die Mannschaft zu denken - das sieht er zwar wirklich so, aber man muss nicht mal seinen kümmerlichen Elfmeter aus dem Elfmeterschießen hernehmen, um zu sehen, dass dieser Müller gerade nicht mit sich im Reinen spielt.

Wann hat die Misere angefangen?

Man weiß gar nicht genau, wann das angefangen hat, vielleicht mit dem verschossenen Elfmeter im Halbfinal-Rückspiel in der Champions League gegen Atlético Madrid, aber bei dieser Europameisterschaft hat man jedenfalls das Gefühl, als sei Müllers legendäres Navigationssystem irgendwie gestört, erkrankt oder zur Kur. In manchen Szenen wirkt er wie ein Instinktspieler, den vorübergehend der Instinkt verlassen hat, und man kann gut nachvollziehen, dass einen so etwas wahnsinnig machen kann.

Man hat Müller bei diesem Turnier so oft wie noch nie dabei erwischt, wie er seine Gegenspieler oder den Schiedsrichter zuquatscht. Das ist grundsätzlich kein schlechtes Zeichen, Müller ist ein begabter Quatscher, Hermann Gerland hat für ihn extra mal den Begriff "Radio Müller" erfunden. Im Moment ist das Radio aber immer auf Sendung. Müller moderiert und rennt und rennt und moderiert, es sind wahrscheinlich Übersprungsgespräche, die er da führt. Manchmal wirkt er ein bisschen abgelenkt.

Müller fühlt sich herausgefordert

Für Thomas Müller ist es ein Segen, dass er Thomas Müller sein darf, nur als Müller kann er so spielen, wie er spielt. Sein naturbelassener Fußball hat ihn sehr zu Recht weltweit einzigartig gemacht, aber wenn es ausnahmsweise mal nicht so läuft, kann ihm derselbe Fußball auch Probleme machen. Müller ist nicht wie Toni Kroos, der sich auch mal übers Passspiel retten kann, er ist auch kein Innenverteidiger, der halt mal aufs riskantere Aufbauspiel verzichtet und sich mit einfachen Bällen Sicherheit holt. Der Instinktkicker Müller hat für solche Fälle kein vernünftiges Repertoire, beziehungsweise: Vielleicht hat er es, aber er hat es halt noch nie gebraucht.

Müller ist kein klassischer Pass- oder Kombinationsspieler, der sich auch mal hinter Automatismen verstecken kann. Er ist ein bayerischer Abenteurer, ein Hochrisikospekulant, der Gelegenheiten schon nutzt, bevor andere sie überhaupt erkannt haben - für so einen Spielertypen gibt es Leichteres, als mal eben vor den Augen der Weltöffentlichkeit die Balance im Spiel wiederzufinden.

Die Kunst ist nun, es zu erzwingen, ohne es erzwingen zu wollen. Das klingt kompliziert. Aber der Müller mag so etwas, es fordert ihn heraus. Und eines weiß er ja auch ganz genau: Seine Karriere könnte davon profitieren. Wenn er sich - vielleicht schon gegen Frankreich - aus dieser kleinen Torschaffenskrise herausgemüllert hat, dann hätte er endlich erfahren, dass er so etwas auch kann. Dann wäre er fast schon ein ganz normaler Fußballer.

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