DFB-Elf gegen Estland:Was Sorg anders macht als Löw

  • Marcus Sorg absolviert am Abend gegen Estland seine zweite Partie als Vertretungs-Bundestrainer.
  • Experimente oder größere Umbauten sind nicht zu erwarten.
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Von Philipp Selldorf, Mainz

Unter den 955 Länderspielen, die der Deutsche Fußball-Bund in seiner Chronik führt, gab es viele unvergessliche Dramen, Erfolge und Begebenheiten, es gab aber auch Spiele wie das 2:1 in Albanien im März 1983 oder das 0:0 in Malta vier Jahre zuvor. Diese Begegnungen sind nicht nur deshalb in Vergessenheit geraten, weil sie lange her sind. Schon damals haben die meisten Betrachter sie aus Mangel an Denkwürdigkeit umgehend aus dem Gedächtnis gelöscht. Aus heutiger Sicht wertet man das aber wieder ganz anders, die nostalgischen Aspekte lassen die trüben Veranstaltungen faszinierend erscheinen.

Denn im März 1983, "da war Albanien noch Albanien", wie Rudi Völler, seinerzeit Schütze des 1:0, Jahrzehnte später wehmütig feststellte. Und die Partie auf dem mysteriösen Eiland Malta fand auf einem betonfesten Hartplatz statt, weshalb Bundestrainer Jupp Derwall anschließend klagte: "Das ist doch dasselbe, als müsste Picasso seine Gemälde auf Tapete malen." Bernd Cullmann, Hansi Müller und all die anderen 0:0-Deutschen durften sich ob dieses Vergleichs geschmeichelt fühlen.

Ob nun die Nachwelt am deutschen 2:0-Sieg in Weißrussland eines Tages Reize entdecken wird, die zeitgenössischen Zuschauern verborgen blieben, das muss die Nachwelt entscheiden. An Picasso-Momenten hat es jedenfalls gar nicht mal gemangelt am Samstagabend in Borissow. Wie Leroy Sané beim 1:0 durch den Strafraum kurvte wie auf dem Skateboard, das war künstlerisch wertvoll, und auch das von Marco Reus ungemein lässig erzielte 2:0 offenbarte die große Meisterschaft des Schützen.

Ter Stegen muss hoffen, dass es ihm nicht ergeht wie Prince Charles

Der Spieler aber, der Pablo Picassos Gebot - "ein Maler darf niemals tun, was die Leute von ihm erwarten" - am eindrucksvollsten befolgte, war Manuel Neuer. Dessen von niemandem erwarteter Verteidigungsvorstoß ins ferne Grenzland zwischen Grundlinie und Eckfahne dürfte manchen müden Zuschauer geweckt haben. Neuer begnügte sich nicht damit, einem weißrussischen Angreifer im Zweikampf den Ball zu entwenden, er sicherte außerdem seine Beute in einem gekonnten Dribbling gegen zwei Widersacher, um schließlich mit einem Kurzpass den Spielaufbau einzuleiten.

Die Exkursion gab einerseits Auskunft über die ungebrochene Abenteuerlust des 33 Jahre alten Kapitäns der Nationalelf und zeugte andererseits von einem Selbstbewusstsein, das man zuletzt öfter mal vermisst hatte beim längst auch öfter mal in Frage gestellten Welt-Torwart Neuer. "So kreativ, wie er hinten rumgeschnickt hat, könnte er bei uns auch auf der Sechs oder weiter vorne spielen", befand Joshua Kimmich fachmännisch. Neuer erklärte mit dem für ihn typischen Spitzbuben-Lächeln, er habe sich im Laufe der Jahre bei seinen Mitspielern "etwas abgeguckt".

In Weißrussland erfüllte die DFB-Elf auf nicht unbedingt hinreißende Weise, aber zur vollen Zufriedenheit der an- und abwesenden Bundestrainer - Marcus Sorg in Borissow, Joachim Löw in Freiburg - ihre Pflicht, sie tat, was sie tun musste, aber sie tat auch nicht viel mehr. Allein Neuer machte den Eindruck, als befände er sich mitten in einem hochwichtigen Wettkampf. Weite Teile des Spiels verbrachte er an der Mittellinie stehend, wo er sich wie ein gieriger Haifisch jeden Ball schnappte, den er kriegen konnte. "Man sieht, dass er Bock hat zu spielen, das tut uns als Mannschaft sehr gut", sagte Kimmich. Stellvertreter Marc-André ter Stegen, verletzungshalber abwesend, dürfte angesichts der energetischen Präsenz des Amtsinhabers festgestellt haben: Das wird wohl noch etwas dauern mit der Thronfolge. Ter Stegen, 27, muss hoffen, dass es ihm nicht ergeht wie Prince Charles, der im Warten auf die Krone grau geworden ist.

Wäre ein 1:0 gegen Estland notfalls schon genug?

Just vor dem Ferienbeginn scheint Neuer von Aufbruchsstimmung gepackt zu sein, dem Bundestrainer i.V. ist es sehr recht. Marcus Sorg hat Neuer zum zentralen Element seines Sicherheitskonzepts bestimmt, zu dem in Borissow auch die Formierung von drei Innenverteidigern in der Abwehrmitte gehörte. Das wirkte gegen die harmlosen Weißrussen ein wenig übervorsichtig, doch den Zugewinn von sechs Punkten hat Sorg für die beiden EM-Qualifikationsspiele zur unbedingten Priorität erhoben, ästhetische Schau-Noten und progressives Arbeiten am Spielstil hält er erklärtermaßen für zweit- bis drittrangig.

Es geht ihm nicht mal um viele Tore und glückliche Zuschauer, und zuallerletzt geht es ihm darum, personelle Experimente zu veranstalten, damit jeder mal mitspielen darf. Manchem hoffnungsvoll angereisten Spitzenspieler droht daher wieder die Ersatzbank, beim Treffen mit Estland am Dienstagabend in Mainz will Sorg an der bewährten Formation nicht viel ändern. Offensivkräfte wie Timo Werner, Kai Havertz oder auch Leon Goretzka müssen sich wohl in Geduld üben, Sorg findet Umbauten wenig zweckdienlich.

Estlands Team sei "ein Gegner, der sehr massiv hinten drinsteht, deswegen denken wir zuerst an den Sieg und dann an das Ergebnis", betonte der Coach am Montag. Er werde auf "eingeübte Abläufe" setzen und "keine große Rotation forcieren".

So konkret pflegt sich sein krankheitshalber abwesender Chef selten zum Ergebnis- respektive Erfolgsfußball zu bekennen. Aber es ist gewiss auch nicht so, dass Sorg seine gestalterische Freiheit überstrapaziert und gegen den Willen von Jogi Löw ein neues Denken ins Nationalteam trägt. Letztlich sind sich Trainerstab und Spieler einig in der Einschätzung des aktuellen Leistungsvermögens - man weiß auf beiden Seiten nicht, wie belastbar das neue, vorwiegend junge Ensemble ist. Für ihn fühle es sich an, "als wären wir eine U21 hier", stellte Serge Gnabry, 23, fest. Vor diesem Hintergrund würde sich Marcus Sorg notfalls auch mit einem 1:0 zufriedengeben. "Jedes positive Ergebnis hilft einer Mannschaft, die in der Entwicklung steht", sagt er. Vielleicht macht ja Manuel Neuer wieder ein Tänzchen, um das Spiel vor dem Vergessen der Nachwelt zu retten.

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