DFB-Rücktritt von Per Mertesacker:Herzensspieler aus der Eistonne

World Cup 2014 - Ankunft der Nationalmannschaft

Nach so viel Jubel nun der Ausstieg: Per Mertesacker bei der Feier des WM-Titels in Berlin.

(Foto: dpa)

Bundestrainer Joachim Löw verliert mit Per Mertesacker seinen dritten Weltmeister. Kaum einer hat das DFB-Spiel so verinnerlicht wie der große Innenverteidiger. Auch wenn er in Brasilien seinen Stammplatz aufgeben musste, kann die Geschichte des WM-Titels niemals ohne ihn erzählt werden.

Von Thomas Hummel

Die Eistonne ist ein WM-Symbol. Ein Symbol für perfekte Regeneration nach schweren Anstrengungen. Für die Fähigkeit, sich zu überwinden. Für Schmerzen, für Leiden. Für Per Mertesacker.

Kaum jemand hat während der Fußball-Weltmeisterschaft in Brasilien so gelitten wie Per Mertesacker. Niemand versinnbildlichte den Aufwand der deutschen Mannschaft so wie er. Niemand wirkte so verbissen ehrgeizig und unter Druck. Der Innenverteidiger befand sich auf einer Mission. Und als diese Mission erfüllt war, feierte er noch im Estádio do Maracanã ausgelassen wie kaum einer. Schon auf dem Platz ragte er aus der jubelnden Mannschaft hervor, was nicht nur an seinen 1,97 Meter Körpergröße lag. Als die Kollegen brav Interviews gaben, führte ein angriffslustiger Mertesacker eine Gruppe von Spielern durch die Medienzone, die mit dem Bier in der Hand laut und falsch sang: "Die Nummer eins der Welt sind wir!" Das Ziel war erreicht, die Etikette war ihm jetzt egal.

Es war sein letzter Auftritt als Nationalspieler. Nach 104 Länderspielen und mit erst 29 Jahren erklärte er am Freitag seinen Rücktritt. Er ist nach Philipp Lahm und Miroslav Klose der dritte Weltmeister von Rio, der von nun an nicht mehr dabei sein will. "Ich mache jetzt den Schritt zur Seite, junge Spieler werden nachkommen", sagte er in einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung.

Wie ein Kran neben Rennautos

Dass diese Jüngeren bereits da sind, verstärkte bei Per Mertesacker wohl das Gefühl, sich nach diesem größtmöglichen Erfolg zurückzuziehen zu müssen. Denn am Final-Sonntag von Maracanã war er ja längst kein Hauptdarsteller auf dem Spielfeld mehr gewesen im deutschen Weltmeister-Team. Während des Turniers hatte er seinen Stammplatz verloren, Mats Hummels und Jérôme Boateng bildeten das Innenverteidiger-Paar von Viertelfinale bis Finale. Dennoch kann die Geschichte des vierten WM-Titels einer deutschen Nationalmannschaft nicht ohne die Geschichte von Per Mertesacker erzählt werden. Sie erklärt so einiges, was diesen Kader ausmachte.

Mertesacker hatte schon vor dem Turnier das Ziel Titelgewinn formuliert. Er gehörte zu Beginn der sogenannten Ochsenabwehr an, der Viererkette mit vier Innenverteidigern. Gegen die extrem schnell konternden Ghanaer und Algerier sah der große Mann aus Hannover bisweilen furchtbar schlecht aus, weil die Gegner schlicht sein Schnelligkeitsdefizit nutzten. Das war zwar legitim, aber hundsgemein, denn Per Mertesacker wirkte in den Sprintduellen wie ein Kran neben Rennautos. Er war das deutsche Opfer bei dieser WM, in der viele Mannschaften gnadenlos auf Konter spielten. Nach dem Achtelfinale gegen Algerien saß er draußen.

Dabei hatte er nur Minuten nach dem Abpfiff der Verlängerung (2:1) die Richtung vorgegeben, wie die Mannschaft mit der öffentlichen Kritik umgehen wolle. Das Interview mit dem ZDF-Mann Boris Büchler ging in die Annalen der aufsehenerregenden Fußballer-Gespräche ein. "Wat wollense", antwortete Mertesacker auf Fragen nach den Schwächen, "wollense ne erfolgreiche WM oder sollnwa wieder ausscheiden und haben schön gespielt. Ich versteh die ganze Fragerei nicht." Die Unzufriedenheit des Umfelds führte innerhalb des DFB-Kaders zu einer Verschwörung. Ganz nach Per: "Wat wollense." Die Spieler wollten jedenfalls gewinnen. Egal, wie.

Ganz nach Löws Vorstellung

Schon nach dem 2:2 gegen Ghana war Mertesacker angriffslustig auf die Mikrofone zugegangen. Er hatte die Augenbrauen zusammengezogen und alle Fragen nach Problemen rigoros aus dem Raum verbannt. "Wir haben mal richtig gelitten unter diesen Bedingungen. Jetzt sind wir gerüstet für den weiteren Weg", sagte er. Vielleicht redete er das den Kollegen so lange ein, bis sie es selbst glaubten.

Als ihn Bundestrainer Joachim Löw auf die Ersatzbank setzte, weigerte sich Mertesacker schlicht, seine Mitarbeit einzustellen. Beim Hitze-Viertelfinale in Rio gegen Frankreich war er stets der erste an den Wasserflaschen, wenn ein Mitspieler um Abkühlung bat. Er lebte den Teamgedanken vor, der die Mannschaft zum Endspiel-Sieg führen sollte. "In Brasilien war er einer unserer wichtigsten Führungsspieler, der die Mannschaft mitgerissen hat", sagt Bundestrainer Löw.

Es war eine der ersten Maßnahmen des damaligen Ko-Bundestrainers Löw und seines Chefs Jürgen Klinsmann, im Jahr 2004 den 20-Jährigen und weitgehend unbekannten Innenverteidiger von Hannover 96 in die Nationalmannschaft zu holen. Diese Nominierung stellte in der deutschen Verteidiger-Historie eine Zäsur dar: Es war das Ende der bissigen Grätscher, der unerbittlichen Zweikämpfer und Bälleablieferer. Der Beginn intelligenter Stellungsspieler und Räumezusteller, die einen ordentlichen Flachpass nach vorne spielen können. Und die fast ohne Fouls auskommen.

"Big fuckin' german"

Mertesacker verkörperte wie kein anderer Innenverteidiger die Vorstellung Löws. Seine risikofreien kurzen Pässe sind stilbildend, Mats Hummels etwa musste sich da erst einiges abschauen, bevor er im DFB-Team verteidigen durfte. Durch seine Körpergröße wirkte sein Spiel aber bisweilen staksig. Wenn das Spiel zu schnell wurde, der Gegner mit flinken, trickreichen Stürmern daherkam, dann sah der Mertesacker hinten manchmal aus, als habe er sich in der Sportart geirrt. Oft kam das allerdings nicht vor.

Zusammen mit Christoph Metzelder bildete der junge Mertesacker die Abwehrzentrale bei der WM 2006 und der EM 2008, bei der WM 2010 hieß sein Partner Arne Friedrich. Nach einem schwierigen Anfangsjahr beim FC Arsenal verlor Mertesacker seine Stammposition bei der EM 2012 und reagierte so gar nicht mannschaftsdienlich. Mertesacker war sauer, das merkte jeder. Bis Brasilien kam zum Tragen, was Löw nun in seinen Abschiedsworten formulierte: "Ich habe mit Per Mertesacker auch deswegen so gerne zusammen gearbeitet, weil er immer offen für Neues war, er will trotz seiner immensen Erfahrung immer dazulernen."

Mertesacker lernte, mit der Situation des Ersatzspielers klarzukommen. Er lernte ebenso, sich in England durchzusetzen. In der vergangenen Saison gehörte er zu den beständigsten und besten Verteidigern der Premier League. Inzwischen ist er sogar ein Liebling der Fans, weil er sich britische Selbstironie angeeignet hat. "Big fuckin' german" nennen ihn die Zuschauer in London, Mertesacker machte daraus das Label BFG, verkauft T-Shirts, Tassen und Handy-Hüllen zugunsten seiner sozialen Stiftung.

Mertesackers neue Aufgaben

Löw verliert nach Lahm und Klose seinen dritten Herzensspieler. Dass er ihn im Finale gegen Argentinien aufgrund der knappen Führung in der 120. Minute einwechseln und ihm so zu einem aktiven Auftritt im WM-Finale verhelfen konnte, machte den Bundestrainer fast sentimental. "Ich habe nichts lieber getan, als ihn einzuwechseln", sagte er direkt nach dem Spiel. Es sei großartig gewesen, was er für die Mannschaft geleistet habe.

Per Mertesacker hat sich vorgenommen, sich neuen Aufgaben zu widmen. Mit dem FC Arsenal hat er noch einiges vor. Und zu Hause lernt er ebenfalls dazu. "Wenn du um fünf oder sechs Uhr morgens von deinem zweiten Baby aus dem Bett geschrien wirst, ist der WM-Titel so weit weg wie der Mond von der Erde", sagt er im SZ-Interview. Oder wie ein Vater vom Gang in die Eistonne.

Das komplette Interview mit Per Mertesacker lesen Sie in der Samstagsausgabe der Süddeutschen Zeitung sowie in der SZ-Digitalausgabe auf dem iPad, iPhone, Android und Windows 8.

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