Süddeutsche Zeitung

Wolfsburgs Koen Casteels:Schlappe 666 Minuten ohne Gegentor

Im Pokal-Viertelfinale in Leipzig richten sich die Augen auf Koen Casteels: Wolfsburgs Torwart ist momentan vielleicht der beste im deutschen Profi-Fußball - seine Zahlen sind beeindruckend.

Von Javier Cáceres, Wolfsburg

Ende 2018 flog der frühere belgische Torwart Jean-Marie Pfaff von München nach Brüssel, und es sprach ihn in der Maschine ein junger Landsmann an, der von einer Dienstreise in Augsburg kam und auf dem Weg in den Urlaub in Dubai war. "An meinen Locken hat er mich erkannt", ruft Pfaff ins Telefon, "die sehen noch genauso aus wie früher!" Die Begegnung blieb Pfaff, 67, auch deshalb in Erinnerung, weil er seinem Reisegefährten 10 000 Meter über der Erde in einem Fachgespräch beste Ratschläge erteilt haben will. Denn an Bord war einer von Pfaffs Nachfolgern als Nationaltorwart Belgiens: Koen Casteels, heute 28 Jahre alt, damals wie heute Keeper des VfL Wolfsburg - und am Mittwoch mit seinem Team im Viertelfinale des DFB-Pokals bei RB Leipzig im Einsatz.

Die Augen sind diesmal auch auf aufgrund beeindruckender Zahlen auf Casteels gerichtet. Er hat letztmals gegen RB Leipzig hinter sich greifen müssen, beim 2:2 im Ligaduell vom 16. Januar. Danach folgten in der Liga 666 Minuten ohne Gegentor, nur fünf Zu-Null-Serien waren in der Geschichte der Bundesliga länger, den Rekord hält Timo Hildebrand seit fast 20 Jahren. "Ich freue mich, dass das (letzte Gegentor) so lange her ist", sagte Casteels dem TV-Sender Sky - und erklärte, dass er nichts dagegen hätte, wenn die Serie andauern würde. Es würde wohl bedeuten, dass er noch stärker aus dem Schatten hervortreten würde, in dem er oft und lange genug war. Was einigermaßen erstaunlich ist. Denn eigentlich galt er als prädestiniert, Belgiens Nummer eins und ein womöglich sogar epochaler Torwart bei einem Weltklub zu werden. Doch das ist - vorerst - der gleichaltrige Thibaut Courtois, der nach Stationen bei Atlético Madrid und dem FC Chelsea das Tor von Real Madrid hütet.

Casteels und Courtois sind nicht identisch, aber stilistisch ähnlich sind sie sich allemal. Das liegt nicht zuletzt daran, dass sie beim KRC Genk die gleiche Ausbildung durchlaufen haben, bei Guy Martens, der keine sonderlich erwähnenswerte Spielerkarriere hatte, aber zu einer Koryphäe der Torwartlehre wurde.

Casteels sei "auch fußballerisch top", sagt sein Wolfsburger Torwarttrainer

Casteels habe lange Zeit die Nase vorn gehabt - unter anderem, "weil er schneller einen Erwachsenen-Körper hatte als Thibaut, und mit 12, 13 Jahren fünfzehn, zwanzig Zentimeter größer war", erzählt Martens. Casteels war in allen Nachwuchsmannschaften des belgischen Verbandes die Nummer eins; und wenn sich vor den Spielen Genks "der Parkplatz mit Autos von Scouts füllte, die ausländische Kennzeichen hatten", galt die Aufmerksamkeit Casteels, nicht Courtois. Doch dann verletzte sich Casteels zu einem ungünstigen Zeitpunkt, Courtois flog vorbei - und landete in London und Madrid. Casteels ging nach Hoffenheim und Wolfsburg. Doch "er hätte auch das Zeug, bei einem Verein wie dem FC Bayern zu spielen", sagt Pfaff.

Daran ist kaum zu zweifeln; Casteels' Qualitäten bestechen. "Er verkörpert das moderne Torwartspiel", sagt sein jetziger Torwarttrainer Pascal Formann, "er verfügt über eine Topathletik, eine sehr gute Strafraumbeherrschung, eine gute Antizipation, eine sehr gute Konzentrationsfähigkeit ... und er ist fußballerisch top."

Das geht nicht zuletzt auf die besondere Form der Ausbildung in Belgien zurück. Einerseits, weil das Spielverständnis geschult wird: "Es gibt 2-D-Torhüter, die nur Bälle abwehren, aber wir wollen 3-D-Torhüter, die in das Spiel eingebunden werden und den Strafraum beherrschen. Torhüter, die proaktiv sind und nicht bloß reagieren", sagt Martens. Andererseits werde auch großer Wert darauf gelegt, dass die Torhüter lernen, mit dem Ball am Fuß umzugehen: "In den Kindermannschaften gibt es bei uns keinen festen Torwart, es wird immer durchgewechselt. So lernen alle, Fußball zu spielen". Erst später, mit 12 Jahren, findet eine Spezialisierung statt. Das hat Langzeitfolgen: Casteels habe einen "unfassbaren linken Fuß", schwärmte Leipzigs Trainer Julian Nagelsmann am Dienstag, und das wiederum führt dazu, dass die Wolfsburger im Tor einen weiteren Spieler haben: Casteels beherrsche "alle Genres der Spieleröffnung", sagte Nagelsmann. Wolfsburgs Torwarttrainer Formanns betont, dass Casteels sehr früh wisse, "was der Gegner machen wird." Und das wiederum erklärt, was Wolfsburgs Trainer Oliver Glasner meint, wenn er sagt, dass Casteels die VfL-Verteidigung "richtig gut coacht" und verschiebt. "Koen hat eine große Ausstrahlung. Die definiert sich aber nicht über das Herumbrüllen auf dem Platz, sondern durch seine Präsenz und Klasse."

Das Hauptkriterium aber bleibt, dass Casteels als Torhüter eine "Kernkompetenz" hat, wie Glasner sagt: Tore verhindern. Casteels steht mit 75,3 Prozent abgewehrten Torschüssen an der Spitze der Bundesliga. Zum Vergleich: Leipzigs Peter Gulacsi hat zwar wie Casteels elf Mal zu Null gespielt, hat aber "nur" knapp 64 Prozent der Torschüsse abwehren können. Auch das erklärt, dass Casteels im Moment der vielleicht sogar beste Torwart im deutschen Profifußball ist. Was er selbst auf eine eingespielte, gut harmonierende Mannschaft zurückführt. Aufsehen macht er um die Zu-Null-Serie deshalb nicht, auch intern nicht, wie Formann berichtet. Als "ein schönes Nebengeräusch" nehme er das wahr, "er registriert auch, dass gerade viel darüber geredet wird. Es freut ihn auch. Aber es bestimmt sicher nicht seinen Alltag", sagt Formann. Er ist halt einfach nur "in sehr, sehr guter Form." Und er weiß es auch.

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