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Ralf Rangnick bei RB Leipzig:Der Oberbulle hat noch etwas vor

Trainer, Fußballgestalter, Bessermacher: Mit 60 Jahren erlebt Ralf Rangnick in Leipzig seine beste Zeit. Doch nach dem Pokalfinale gegen die Bayern wird er sich die Frage stellen: Was bin ich?

Von Moritz Kielbassa, Leipzig

In ein paar Wochen, wenn die schöne Gegenwart von RB Leipzig schon wieder Aufputschbrause von gestern sein wird - der dritte Champions-League-Platz in der Liga und nun dieses DFB-Pokalfinale, in dem sich Ralf Rangnick gegen die Bayern "richtig gute Außenseitchancen" ausrechnet -, in ein paar Wochen also, wenn die neue Saison 2019/2020 losgeht, dann werden auffallend viele Trainer der Bundesliga für ein Stück Fußball-DNA von Rangnick stehen. Sechs von 18 werden es sein, die markante Berührungspunkte mit seinem Fußball-Kosmos hatten. Mit Rangnicks Werk einst in Hoffenheim, in Salzburg oder Leipzig. Jeder Dritte in der Liga. Und was tut er selbst? Gute Frage.

Rangnick ist dann nicht mehr der Leipziger Trainer, und er hofft, "dieses Szenario auch für die Zukunft ausschließen zu können". Ab 1. Juli soll er wieder für das große Ganze in Leipzig zuständig sein, aber wohl nicht so eng an die Profimannschaft angedockt wie ein herkömmlicher Sportdirektor. "Pudelwohl" fühle er sich, "ich habe aus ganzem Herzen vor, hier weiter tätig zu sein", hat er dieser Tage ganz unprofessoral gesagt. Sehr ausdrücklich sagt er aber auch, dass es eine unzulässige Schlussfolgerung wäre, diese Wohlfühlsaison und dieses Endspiel in Berlin als Schlusspunkt seiner Trainer-Karriere zu sehen.

"Um auszuschließen: nie mehr irgendwo Trainer!", sagt Rangnick, 60, "dafür fühle ich mich zu jung, zu fit". Und, fügt er an, "zu sehr Spaß habend". Und Spaß hat er eben auch an diesem Sextett an künftigen Ligatrainern: Julian Nagelsmann, der ihm in Leipzig nachfolgt, wurde einst vom Sportchef Rangnick als Nachwuchscoach in Hoffenheim gefördert. David Wagner, neu bei Schalke, ist zwar Kumpel von Jürgen Klopp, sagt aber wegen seiner Jugendtrainerzeit in Hoffenheim: "Was die Spielidee betrifft, bin ich von Rangnick geprägt. Das ist der Fußball, den ich geil finde."

Nur ein Mal war Rangnick Pokalsieger, 2011 mit Schalke

Ähnlich verwurzelt fühlt sich der neue Köln-Coach Achim Beierlorzer, der auch mal bei den sächsischen Rasenballern war: "Ich habe in Leipzig die Bandbreite aller Dinge kennengelernt, die man im Fußball machen kann. Das ist meine Spielphilosophie." Marco Rose (künftig Gladbach) und Adi Hütter (Frankfurt) haben sich mit Red-Bull-Fußball in Salzburg einen Namen gemacht. Und Oliver Glasner, der neue Wolfsburg-Coach, wäre heute vielleicht Manager oder Marketingmensch, wenn er nicht als Salzburger Büromitarbeiter 2012 mit dem Sportdirektor Rangnick Joggingrunden gedreht hätte - "da hat mich Ralf irgendwann gefragt, ob ich mich nicht eher in der Trainer-Schiene sehe". So fing Glasner in Salzburg als Assistenzcoach an.

"Wie viele Trainer heute Erfolg haben, die bei uns teilweise als No-Names angefangen haben, das ist außergewöhnlich", findet Rangnick. Insofern ist es eine recht schräge Pointe, dass er selbst, der seit zwei Jahrzehnten so viele Fingerprints im deutschen Fußball hinterlassen hat und ganz spezielle Projekte auf die Beine stellte, mit Methodik, Hartnäckigkeit und auch aneckendem Auftreten, dass also dieser Lehrvater Rangnick erst jetzt in Berlin, mit 60, um seinen ersten großen Titel spielt, den die Branche vollwertig anerkennen würde.

Aufgestiegen ist er oft, mit Ulm, Hannover, Hoffenheim und Leipzig. Doch die Rubrik "Titel" gibt nicht viel her. Nur ein Mal war er Pokalsieger, 2011 mit Schalke. Aber da fanden viele seine Hand am Goldpott fehl am Platze, weil er als Nachfolger von Felix Magath nur das Finale gegen Duisburg gecoacht hatte. Rangnick, der ein ziemlicher Gerechtigkeitsfanatiker sein kann, erläutert an dieser Stelle gern, warum er diese Sichtweise unfair findet, denn er ist überzeugt, er hätte in jenem Jahr auch mit Hoffenheim Berlin erreicht, wäre er nicht vor dem Viertelfinale nach Streit mit Mäzen Dietmar Hopp zurückgetreten. Danach ging er ein zweites Mal zu Schalke, ein Intermezzo, als er für kurze Zeit noch mal das war, was er eigentlich schon seit 2006 nicht mehr ist: einfach nur Trainer.

Seit sich Ralf Rangnick vor 13 Jahren auf das Abenteuer Hoffenheim einließ, ist er mehr. Ein interdisziplinärer Fußballgestalter. Als Trainer. Sportdirektor. Spielerentdecker. Trainerentdecker. Bessermacher.

Hoffenheim nennt er "mein Baby"

In Hoffenheim und Leipzig hat er Bundesligisten am Reißbrett entwickelt, mit dem nötigen Großgeld als Anschub, aber immer seinen Prinzipien folgend. Mit Volle-Lotte-Fußball. Mit jungen, physisch belastbaren Spielern. Mit weit gespannten Scouting-Netzen. Mit straffen Lehrplänen für die Jugendakademien. Und mit Fachspezialisten, die an tausendundeinem Rädchen drehen - vom Analysten auf der Tribüne, der mit Headset zur Trainerbank funkt, bis zum Koch in der Spielerkantine, der keinen Industriezucker verwendet. Alles zum Zwecke der großen Lebensaufgabe von Rangnick, die lautet: "Durch Planung den Faktor Zufall im Fußball minimieren!"

"Meine besten Jahre waren die", sagt er, "wo ich mehr sein konnte als nur Trainer." Hoffenheim nennt er "mein Baby", obwohl das Projekt unvollendet und der Abschied verkorkst war. Und nun: Sieben Jahre Leipzig, aus den Tiefen der ostdeutschen Regionalliga bis nach Europa - und im zehnten Jahr des Klubbestehens nun ins Pokalfinale, ausgerechnet gegen die Bayern, mit denen sich Rangnick so oft gekabbelt hat. Welchen Stellenwert in der Vita hat das? Ja, sagt er, "Leipzig, das sehe ich schon als eine Art Lebenswerk".

Sein erstes Endspiel in Berlin, 2005 mit Schalke gegen Bayern (zum 2:1-Siegtor traf der heutige Münchner Sportchef Salihamidzic), das fand in Rangnicks erster Karrierephase statt. Als Einfach-nur-Trainer, wobei: Ein Normalo-Trainer war er nie. Schon die Anfänge in Württemberg und Ulm: Bei einem Wintertestspiel gegen Kiew entdeckte er die Vorzüge von Raumdeckung und Pressing des Trainergurus Lobanowski ("ich dachte, die sind drei Mann mehr"), das war wie eine Erweckung. Mit seinem Mentor Helmut Groß, der ihn bis heute berät, folgte er strenggläubig dieser Spielidee, sehr imageprägend wurde sein Referat dazu an der Taktiktafel im ZDF.

Rangnick, der immer mehr um Respekt gekämpft hat als um Beliebtheitspreise, hat oft fachliche Anerkennung erhalten - die Kehrseite davon war immer die Skepsis des Mainstreams. Wie in seiner ersten Schalke-Zeit. Es regierte der Manager Rudi Assauer, ein Macho vom alten Schlag, der verkopfte Konzepte bekloppt fand, der Rangnick "Rolf" nannte und mit Spötteleien zu dessen Ruf beitrug, ein Allesbestimmer zu sein, der "am liebsten auch noch den Bus fahren würde" und mit seiner Perfektion und Kontrolle jeden kirre macht. Zu Rangnicks Vorschlag, einen Psychologen einzustellen, raunte Assauer: "Mental? Was ist das? Eine Zahnpasta?"

Gut 13 Jahre später ist Rangnick auf der Zielgeraden einer Saison, die seinen Vorstellungen einer optimierten Rasensportwelt nahe kam. Dabei war es ein Wagnis, als Platzhalter für Julian Nagelsmann noch mal als Coach einzuspringen, aber am Ergebnis gibt's wenig zu mäkeln: Bundesliga-Dritter, beste Defensive der Liga. Uli Hoeneß, der Rangnick einst "Besserwisser" schimpfte, sieht Leipzig aktuell als gefährlichsten Bayern-Gegner der Zukunft.

Rangnick möchte "kein Brummkreisel" mehr sein

Auch Randaspekte machen Rangnick gute Laune. Dass noch immer bis zu sieben, acht Stammspieler auf dem Feld stehen, die mit ihm schon 2015 in der zweiten Liga antraten, dass weiterhin das Viereck Werner-Poulsen-Forsberg-Sabitzer das Offensivspiel prägt - "das macht's aus", findet der Trainer, "so viel zum Thema: Leipzig kauft die ganze Liga leer! Diese Spieler sind jetzt schon so viele Jahre hier! Bei denen ist eine Verbindung zum Verein entstanden, die weit hinausgeht über eine Geschäftsbeziehung. Sie wollten unsere Ziele unbedingt erreichen, für die ist ein DFB- Pokalfinale wie eine Mission."

Er selbst, findet Rangnick, lerne "auch mit 60 noch dazu. Ich glaube schon, dass ich mich verändert habe und ruhiger geworden bin". Kesse Sprüche, die den Gegner provozieren, wie er sie einst aus Hoffenheim nach München schickte, oder dass er in der Halbzeit auf den Rasen rennt, um dem Schiedsrichter per Handy-Video eine Fehlentscheidung hinzureiben - "das würde ich heute so nicht mehr machen", glaubt Rangnick. Auch seinen Kontrolldrang habe er gedrosselt. Seinen RB-Stab preist er als "den besten, den ich je hatte. Und wenn du solche Topleute hast, dann musst du ihnen Gehör und Verantwortung geben. Würde ich die ständig überstimmen, ergäbe das keinen Profit und Sinn." Die Intensität des Trainings zum Beispiel lässt er heute komplett durch Athletiktrainer steuern: "Die stehen mit dem Laptop am Rand und sagen genau, wie viel Sprit die Jungs im Tank haben und wie viele schnelle Meter sie in dieser Einheit noch machen dürfen." Sein Co-Trainer, der Amerikaner Jesse Marsch, hat der Bild erzählt, alle Assistenten hätten auch bei Spielen ein Mitspracherecht: "Wir diskutieren 1000 Dinge, Ralf trifft die Entscheidungen - aber nicht ohne uns. Er überstimmt uns auch nicht."

Rangnick möchte "kein Brummkreisel" mehr sein, auch mit Rücksicht auf seinen Burnout 2011, als er "energetisch völlig erschöpft war, ohne Antrieb" und seinen Körper monatelang wieder aufladen musste, "wie ein Handy: 20 Prozent, 40, 80, 100."

Trotzdem ist das mit der inneren Ruhe bei Rangnick relativ. Er brummt noch oft genug. Perfektionismus bleibt sein Antrieb, er versteht nicht, "warum das ein so negativ besetzter Begriff ist". Für sein Umfeld wird er immer der fordernde Schwierige sein, der auf kleinste Details pocht - und notfalls seine Mitstreiter sogar an Heiligabend anruft, weil etwa bei einem Transfer gerade der Schuh drückt. "Ein guter Trainer muss anstrengend sein und seine Spieler jeden Tag nerven", sagt er. Jesse Marsch formuliert es so: "Ralf ist unerbittlich, wenn es um Leistung geht. Er dreht jeden Stein um, er akzeptiert kein Nein! Aber das ist unser Schlüssel zum Erfolg."

So sehen sie das bei RB Leipzig, von Konzernchef Dietrich Mateschitz bis zu Oliver Mintzlaff, dem Geschäftsführer, der Rangnick seit vielen Jahren in verschiedenen Rollen begleitet, anfangs als Berater, nun als CEO. Da wird täglich diskutiert, "auch kontrovers", sagt Mintzlaff, "aber am Ende geht es uns beiden immer um die beste Lösung für den Verein". Beide bestreiten, dass es ein Machtgerangel um ihre künftige Aufgabenverteilung gebe. "Da ist gar kein Dissens", sagt Rangnick. Intern hat er schon vor Monaten hinterlegt, dass er dem neuen, halb so alten Trainer Nagelsmann nicht täglich auf die Finger schauen müsse, sondern sich auch verstärkt um globale RB-Aktivitäten kümmern könne, um den neuen Klub in Brasilien, den Standort New York oder Vorhaben in China. Fürs Tagesgeschäft in Leipzig kommt als Sportdirektor angeblich Markus Krösche hinzu (aus Paderborn), nach dem Pokalfinale soll das neue Organigramm stehen. Mintzlaff will Rangnicks Sportkompetenz auf keinen Fall verlieren: "Ralf ist unser Motor. Er hat hier die Eckpfeiler gesetzt und zuletzt mit der Mannschaft überragend performt."

Den RB-Bossen ist bewusst, dass sich bei Rangnick nach dieser Saison die Grundsatzfrage stellt: Was bin ich? Auf Jahre hinaus nun der Oberbulle im Chefbüro? Oder aus Leidenschaft bald wieder Trainer?

Vor einiger Zeit hatte Rangnick nicht verhehlt, dass es Kontakte zum belgischen Verband gab. Einen DFB-Präsidenten, der ihm irgendwann den Bundestrainer-Posten anbietet, würde er vermutlich nicht von der Bettkante stoßen. Und er hat nie ein Geheimnis aus seiner Liebe zu England gemacht, für einen Trainerjob bei Chelsea oder Arsenal wäre er früher durch den Ärmelkanal geschwommen. Und heute?

Rangnick adelt Jürgen Klopp

Rangnick bewundert Jürgen Klopp, den "besten Trainer der Welt", wie er findet, der in Liverpool denselben "Gegen-den-Ball"-Stil predigt wie er. "Mit unserem Fußball in Leipzig sind wir näher dran an Klopp als an Tuchel und Paris oder an Guardiola", sagt Rangnick, "wir sind nicht mehr Lichtjahre entfernt von den anderen, aber unser Ansatz ist eher: Wie können wir dem Gegner den Ball wegnehmen?" Ballbesitz ohne zügigen Tiefgang ist für Rangnick unnützes Zeug. Und er identifiziert sich auch deshalb mit Klopp, weil auch der nicht nur die pure Trainerrolle lebt: "Das ganze Klub-Building von Jürgen in Liverpool, über Jahre aufgebaut, mit Spielern, die zu seiner Idee passen - das werden die Leute dort noch in 20 Jahren zu schätzen wissen, auch wenn er keinen Titel holen sollte."

Auf ähnliche Hochachtungseffekte, auch ohne Trophäen, hofft Rangnick in eigener Sache, selbst im Falle einer Niederlage in Berlin. Nicht vergessen, sagt er: "Wir haben 2012 angefangen mit einem Testspiel in Piesteritz. Mein erstes Punktspiel war gegen Union Berlin Zwei, ein 1:1, das war weiter weg vom Aufstieg als die Erde vom Mond." Er muss schmunzeln, wenn er an diesen Holperstart zurückdenkt, kaum zu glauben im glitzernden Hier und Heute.

Und obwohl noch immer viele Traditionalisten im Konstrukt RB die böse Fratze des Kommerzfußballs sehen, glaubt Rangnick, "dass uns diesmal gegen die Bayern auch viele die Daumen drücken werden, die keine Fans von uns sind".

Das alles hat natürlich Gewicht bei seiner Zukunftsplanung. Es sei im Moment schwer vorstellbar, Leipzig zu verlassen, sagt er, auch wegen der vielen Mitarbeiter, die er selbst für sonnenklar definierte Jobprofile ausgesucht hat. "Bei fast jedem, der bei RB ist, war ich an der Verpflichtung beteiligt - nur unser Sicherheitsbeauftragter war schon da", sagt Rangnick amüsiert, "so etwas gibt man nicht einfach so auf." Vor allem nicht für Vereine, die ihn als Einfach-nur-Trainer haben wollen, ohne Befugnis für Kaderplanung und Spielidee. "Das", glaubt er, "würde ich nicht mehr machen."

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SZ vom 25.05.2019/ebc
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