Christian Streich wollte nicht über Einzelne reden. Nicht jetzt, nicht in der Stunde eines 1:5, mit dem der Traum von Berlin für den SC Freiburg geplatzt war. Als Streich also nach Vincenzo Grifo und dessen Reservistenrolle gefragt wurde, da entgegnete er im typischen Dialekt: "Was isch mim Woo Jeong? Was isch mim Noah Weißhaupt? Was isch mim Roland Sallai?" Sie alle hatten ebenfalls keinen Platz in der Freiburger Startelf gefunden, als der Sportclub am Dienstagabend im Halbfinale des DFB-Pokals auf RB Leipzig traf und zum zweiten Mal nacheinander ins Endspiel einziehen wollte - doch bei Grifo sind die Dinge etwas anders gelagert.
Grifo, 30, hat in dieser Bundesliga-Saison 13 Tore geschossen, er kann ein Spiel jederzeit mit einer einzigen Szene entscheiden. Er saß aber nicht nur jetzt gegen Leipzig auf der Bank, sondern auch beim verlorenen Rückspiel im Europa-League-Achtelfinale gegen Juventus Turin.
Reservist gegen Leipzig, Reservist gegen Juve: Nach dem Pokalspiel am Dienstagabend ist es von elementarer Bedeutung, die Personalie Grifo in den Blick zu nehmen, weil sich aus ihr etwas lernen lässt über den Freiburger Umgang mit Tiefschlägen und über das, woraus diese Mannschaft ihre Stärke zieht. Die Frage nach dem italienischen Nationalspieler hatte Streich dazu veranlasst, die Gruppe zu beschwören und herauszustellen, wie zentral die Einheit für den Freiburger Erfolg ist. Streichs Mannschaft hat in der Bundesliga die erstmalige Qualifikation für die Champions League vor Augen, es ist eine Chance historischen Ausmaßes - und wenn der Sportlcub sie nicht verstreichen lassen will, braucht Streich auch Grifo und jeden anderen Spieler aus seinem Kader.
Die Freiburger Gruppe hat schon so manche Zerreißprobe in dieser Saison überstanden. 0:5 in München, 0:6 in Wolfsburg, 1:5 in Dortmund und jetzt ein 1:5 gegen Leipzig: Spiele wie diese können eine Mannschaft auseinandertreiben, doch Streichs Spieler sind stets beieinander geblieben und gemeinsam wieder aufgestanden. "Man muss das akzeptieren", sagte Streich am Dienstagabend, nachdem bei seinem Team erneut die Sicherungssysteme ausgefallen waren, "in Dortmund haben wir auch fünf gekriegt, in Wolfsburg waren es sechs. Das kann uns einfach passieren."
"Wer sind wir?", fragt Christian Streich mit Verweis auf die Konkurrenz
Neu war allerdings, dass es auch auf den Tribünen zu Ausfällen kam. Becher flogen auf das Feld, einige Fans kletterten über den Zaun, der Leipziger André Silva wurde offenbar von einer Münze am Kopf getroffen. "Egal, welche Situation vorher war oder wie es sich auch hochschaukelt, das hat im Stadion nichts verloren", sagte Freiburgs Sportvorstand Jochen Saier dazu.
Was das Sportliche anging, trug Freiburgs Trainer die Nüchternheit eines Buchhalters in sich, klang aber - anders als man vielleicht meinen könnte - weder gleichgültig noch ratlos oder ohnmächtig. Es lässt ihn nicht kalt, wenn seine Mannschaft derart gedemütigt wird wie gegen Leipzig, im Gegenteil: Seine Mannschaft, nur das meinte Streich, braucht schon einen besonders guten Tag, um mit Leipzig, Dortmund oder Bayern mitzuhalten. Und wenn der Tag eher mittelmäßig ist, dann geht es nun mal dahin.
"Wer sind wir?", fragte Streich und erwähnte dann exemplarisch mit aufrichtiger Verblüffung, dass seine Mannschaft in der Bundesliga-Tabelle tatsächlich vor einem Klub wie dem VfL Wolfsburg stehe, der einen hochkarätigen Kader, derzeit aber zehn Punkte weniger habe. Eine immense Leistung - ebenso wie ein Halbfinale zu erreichen und es dort mit dem Titelverteidiger aufzunehmen.
Dani Olmo ragt bei Leipzig heraus
Leipzig hat den Pokal bereits im Vorjahr gewonnen, im Finale gegen Freiburg, nun steht RB bereits zum vierten Mal in den vergangenen fünf Saisons im Endspiel. "Es ist keine Selbstverständlichkeit, sondern etwas ganz Besonderes, was wir geschafft haben", meinte Trainer Marco Rose, führte den Erfolg auch auf "ein gewisses Selbstverständnis" zurück, das seine Spieler in Pokalspielen an den Tag legten, und hob vor allem das Umschaltspiel hervor, mit dem seine Mannschaft Freiburg sehr große Probleme bereitet hatte. Nur die rote Karte gegen Verteidiger Josko Gvardiol - wegen einer Notbremse beim Stand von 4:0 - und die damit verbundene Sperre fürs Pokalfinale taten RB am Ende des Spiels richtig weh.
Aber die unwiderstehliche Geradlinigkeit, mit der die Leipziger ihre Angriffe vorgetragen hatten, diese Kompromisslosigkeit, diese Messerschärfe, die in nahezu allen Facetten und Phasen stilbildend für ihr Spiel gewesen war, all das ließ auch die Frage aufkommen, wo Roses Mannschaft wohl in der Bundesliga stehen würde, wenn sie die Leistung von Freiburg beständiger abrufen würde. Und wenn die beiden Schlüsselspieler, Christopher Nkunku und der gegen Freiburg herausragende und an vier Toren beteiligte Dani Olmo, nicht so lange verletzt gewesen wären.
Vier Spieltage vor dem Saisonende steht Leipzig nur als Fünfter da, zwei Punkte hinter einer Mannschaft, die in dieser Saison schon 0:5, 0:6, 1:5 und 1:5 verloren hat. Wer nun sah, wie die Leipziger diesem Freiburger Team gegenübertraten, der konnte eigentlich kaum glauben, dass es derzeit noch vier bessere Mannschaften in Deutschland geben soll.
Es sei Woche für Woche "ein Kampf", die Spannung zu halten, gestand Rose und nannte es dann "die große Kunst", eine Mannschaft Spiel für Spiel "mit der gleichen Haltung, Mentalität und Energie aufs Feld zu schicken". Gelingt das den Leipzigern noch fünf Mal, könnten erneut der Pokalsieg und die Champions League herausspringen. Rose weiß aber: "Am Samstag müssen wir uns auf eine heiße Atmosphäre einstellen." Denn dann geht es um Platz vier in der Liga. RB ist erneut in Freiburg zu Gast - und muss sich ein weiteres Mal in einem stimmungsgeladenen Stadion behaupten.