Süddeutsche Zeitung

DFB-Pokal:Die Zukunft hat noch Pausbäckchen

Stuttgarts Sturmhoffnung Wahid Faghir, 18, ist die neue Entdeckung des Sportchefs Mislintat: Die Eltern flüchteten einst vor den Taliban aus Afghanistan, die Veranlagung des Sohnes weckt interessante Fantasien. Beim VfB zweifeln sie aber noch, ob der Däne schon ein Pokalspiel über die volle Distanz schafft.

Von Christof Kneer, München

Der Ball kam irgendwie zum Stürmer, der Stürmer versuchte zum Schuss zu kommen, aber plötzlich war die Schussbahn nicht mehr frei. Der Stürmer verzögerte kurz, lief weiter quer zur Strafraumlinie, dann sah er im Getümmel auf einmal eine neue Lücke und holte aus. Der Ball hatte die kleine wilde Fahrt bis dahin klaglos mitgemacht, auch jetzt gehorchte er. Er flog vom Spann des Stürmers in Richtung der Lücke, wobei er unterwegs noch eine eigene Idee entwickelte. Mitten im Flug ließ sich der Ball vom Bein eines gegnerischen Verteidigers berühren, und von da flog er nun mitten rein ins Tor, unhaltbar, wie man so sagt.

Wer dieses Tor unabhängig von Spielstand, Spielminute und Spieler sieht, erkennt das sofort: Hier schießt ein Mittelstürmer. Speziell in der obersten Liga Deutschlands, in der diese Szene am Wochenende zur Aufführung kam, ist der Blick auf Mittelstürmer historisch gefärbt; man sieht hier immer auch ein bisschen Gerd Müller schießen. Man darf das deshalb mal so sagen: Es war ein klassisches Müller-Tor, das ein etwas quadratisch gebauter, aus der Ferne noch sehr jung aussehender Stürmer da am Sonntagabend erzielte.

Die Fakten zum Bild: Das Tor war das 1:1 für einen in Unterzahl spielenden VfB Stuttgart gegen Union Berlin, in der 93. Minute. Verdient war dieser Ausgleich nicht. Aber interessiert das einen Mittelstürmer?

Wahid Faghir verkörpert Reiz und Risiko des Stuttgarter Projekts

Wenn es stimmt, dass der VfB Stuttgart unter dem Sportchef Sven Mislintat ein spannendes Projekt geworden ist, dann ist Wahid Faghir, 18, innerhalb dieses Projektes das spannendste Unterprojekt. Schon seine Biografie ist so ungewöhnlich wie seine Veranlagung: Faghir kam im dänischen Vejle als Sohn afghanischer Eltern zur Welt, seine Familie war vor dem Taliban-Regime geflohen. In Vejle verbrachte er Kindheit und Jugend damit, Tore zu schießen, meist war er seinen Altersklassen ein bisschen voraus. Mit 15 unterschrieb er unter Mithilfe seiner Eltern einen Profivertrag, mit 16 gab er sein Debüt in der dänischen zweiten Liga. Eine Woche später schoss er dort sein erstes Tor, am Ende der Saison stieg er mit Vejle BK in die erste Liga auf. Er schoss auch dort ein paar Tore in einer Mannschaft, die nicht so häufig aussichtsreich vors Tor kam.

Als der VfB Stuttgart vor zwei Monaten die Verpflichtung Faghirs verkündete, hatten die Experten schon ein neues Bild im Kopf, das die recht geräumige Ablöse von vier Millionen Euro rechtfertigte: Faghir, wie er, 17-jährig, bei der U21-Europameisterschaft im Viertelfinale gegen Deutschland ein Gerd-Müller-Tor schoss. Spätestens seit dem Turnier in diesem Sommer gilt Faghir als das nächste große Ding auf dem europäischen Stürmermarkt, was nicht immer etwas heißen muss. In Faghirs Fall sind sich die Scouts der großen Klubs aber weitgehend einig. Sie malen sich alle den Spieler aus, der Faghir mal werden könnte.

So funktioniert auch die Geschäftspolitik des Sportdirektors Mislintat: Er verpflichtet Spieler in der Gegenwart, weil er deren Zukunft haben will. So ist Wahid Faghir nach einem einzigen Tor bereits zum stellvertretenden VfB-Spieler geworden: Er steht für Reiz und Risiko des Projekts.

"Ein paar Kilo" habe Faghir schon runter, sagt VfB-Trainer Matarazzo

Am Mittwoch empfangen die Stuttgarter nun den 1. FC Köln im DFB-Pokal, und gemäß der Branchenlogik mag es verwundern, dass an Faghirs erstem Startelf-Einsatz Zweifel bestehen. Der Junge hat das Momentum auf seiner Seite, die langzeitverletzten Sasa Kalajdzic und Silas fehlen ebenso wie der angeschlagene Omar Marmoush, und Hamadi Al Ghaddioui wird intern zwar als guter Typ geschätzt, gilt aber nur als szenenweise erstligatauglich. Allerdings haben sie beim VfB doch etwas gestaunt, als sie Faghir jüngst in Empfang genommen haben. Der Zukunftsheld hatte in der Gegenwart ein paar Pausbäckchen dabei, sein Fitnesszustand war der eines Supertalents, das in einer kleineren Liga das meiste über seine Qualität regeln konnte.

"Ein paar Kilo" habe Faghir schon runter, sagt nun der VfB-Trainer Pellegrino Matarazzo, der dem jungen Mann zurzeit eher 60 als 90 Spielminuten zutraut. Kleines Problem: Im Pokal könnten es auch mal 120 Minuten werden.

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