Nationalmannschaft:Unruhe im Teamhotel

Nationalmannschaft: Einer im Mittelpunkt, einer krankgeschrieben: der Gladbacher Jonas Hofmann (links) und der Covid-infizierte Torwart Manuel Neuer.

Einer im Mittelpunkt, einer krankgeschrieben: der Gladbacher Jonas Hofmann (links) und der Covid-infizierte Torwart Manuel Neuer.

(Foto: Gladys Chai von der Laage/Imago)

Während Gladbachs Jonas Hofmann seinen Aufstieg in der DFB-Hierarchie erklärt, müssen Manuel Neuer und Leon Goretzka coronainfiziert abreisen. Jetzt ist Improvisation gefragt.

Von Philipp Selldorf, Frankfurt

Angekündigt war der Kapitän Manuel Neuer, aber auf dem Podium für die tägliche Pressekonferenz der Nationalmannschaft lag dann bloß, stumm und verlassen, seine neue Armbinde. Am Vormittag waren der Torwart und sein Münchner Mitspieler Leon Goretzka positiv auf das Coronavirus getestet worden, das führte nicht nur zu einem unbesetzten Sitzplatz bei der Medien-Sprechstunde, sondern auch zu Unruhe im Teamhotel. Während Neuer und Goretzka die Heimreise Richtung Bayern antraten, absolvierte die gesamte DFB-Crew Schnelltests, die einstweilen negativ ausfielen. Wie der DFB wissen ließ, hatte sich in der privaten Umgebung eines der beiden Spieler ein Corona-Fall ergeben, weder Neuer noch Goretzka klagten über Krankheitssymptome.

Die Kontaktpersonen der beiden im Kreis der Spieler und Betreuer sollen nun vor den Spielen gegen Ungarn (in Leipzig) und in England (in London) täglich getestet werden. "Nach zwei Jahren mit der Pandemie greifen die gewohnten Abläufe unserer medizinischen Abteilung", erklärte Pressesprecherin Franziska Wülle und gab damit zu verstehen, dass sich die Aufregung einigermaßen in Grenzen hält. Später am Tage meldete sich auch Julian Brandt ab (Infekt), die nachnominierten Oliver Baumann und Maximilian Arnold sollen die Lücken füllen. Improvisation ist gefragt.

Jonas Hofmann, 30, kennt das Prozedere bereits. Abreise nach der Anreise, das hatte er im Frühling des vorigen Jahres nach positivem Befund durch die DFB-Ärzte ebenfalls praktizieren müssen. Mit ihm wurde damals vorsorglich der Kollege Marcel Halstenberg in Quarantäne geschickt, dem eine gemeinsame Partie Backgammon zum Verhängnis geriet. Die folgenden Tage sind Hofmann unvergesslich geblieben: "Man liegt oder sitzt nur im Zimmer rum, und es ist todlangweilig." Ein Jahr später erwischte ihn das Virus zu Hause in Mönchengladbach erneut.

An Ersatzkapitänen für den abwesenden Neuer herrscht kein Mangel in Hansi Flicks Kader

Mittlerweile sind die Regeln weniger streng, und Hofmann durfte am Mittwoch wie angekündigt zum Pressetermin erscheinen und die ehrenvolle Aufgabe übernehmen, die Gegenwart von Neuers Armbinde zu erläutern. Diese lag nämlich nicht als Referenz an den isolierten Kapitän auf dem Tisch, sondern weil sie in ihrer Buntheit ein politisches Symbol darstellen soll, wenn Neuer sie wie vorgesehen bei der WM zur Schau trägt. In Anbetracht der umstrittenen Verhältnisse in Katar solle das Stück Stoff "für Vielfalt und gegen Diskriminierung stehen". Auch die Kapitäne anderer europäischer Teams (unter anderem Niederlande, Belgien, England) werden die farbige Schleife über den Arm streifen, "es geht darum, dass wir alle an einem roten Faden ziehen", meint Hofmann.

An Ersatzkapitänen für den abwesenden Neuer (Marc-André ter Stegen wird seinen Posten übernehmen) herrscht kein Mangel in Hansi Flicks Kader. Ilkay Gündogan, Thomas Müller oder Joshua Kimmich sind - in dieser Reihenfolge - die ersten Kandidaten, aber wenn Hofmann nicht aufpasst, dann wird auch ihm demnächst womöglich das Ehrenamt angetragen werden. Seine steile Karriere in der Nationalelf ist längst kein brandaktuelles Thema mehr, aber sie ist als später Glücksfall in der Laufbahn immer noch erstaunlich. Zum Debüt hatte ihm vor zwei Jahren Jogi Löw verholfen, unter dessen Nachfolger ist der Rechtsaußen aus Mönchengladbach aber zum Stammspieler aufgestiegen.

Häufig behaupten Fußballer, sie läsen nicht, was über sie geschrieben werde, damit sie einen klaren Kopf behalten. Es könnte daher sein, dass Jonas Hofmann zuletzt einiges entgangen ist, was er für die spätere bewundernde Kenntnisnahme durch Kinder und Kindeskinder hätte abheften sollen. "So wertvoll wie nie!", "So wird er zum WM-Trumpf", "Hofmann empfiehlt sich bei Flick", "Effenberg adelt Hofmann: Weltklasse", hieß es nach dem vergangenen Wochenende über ihn. Das liest sich nicht schlecht in der Familienchronik. Die beste Überschrift am vergangenen Samstagabend stammt allerdings von ihm selbst. "Ich glaube, ich hätte einen Viererpack machen können", hatte nach Borussia Mönchengladbachs 3:0-Sieg gegen RB Leipzig der doppelte Torschütze erklärt.

Offensiv wird Hofmann mit seinen öffnenden Läufen nicht nur auf dem Flügel gebraucht

In der Nationalelf wird sich Hofmann in den kommenden Partien wahrscheinlich mit weniger Torgelegenheiten begnügen müssen, wenn er auftragsgemäß ein paar Meter weiter hinten operiert. Der Offensivspieler hat als zweckentfremdeter rechter Verteidiger ins Team gefunden und dank seiner Dynamik und seinem Spielvermögen nicht nur eine lange Zeit beklagte Vakanz geschlossen, sondern auch eine Rolle eingenommen, die zu Flicks angriffsorientierter Spielidee passt. Schon Löw hatte über seinen Positionswechsel nachgedacht, Flick verwirklichte den Versuch, und Hofmann begab sich sofort an die Hausaufgaben.

Verteidigen war bis dahin für ihn eine Nebentätigkeit gewesen. Von "Umschulung" will er jetzt zwar nicht reden, zumal da er bei der Borussia seine alte Stellung behalten hat, aber mit den Einzelheiten seiner neuen Aufgabe habe er sich schon eingehend beschäftigt, erzählt er. Als Erstes ging er zu Hause in die Youtube-Schule, er schaute sich Videos an und studierte das Verhalten der Verteidiger. Seitdem sieht er Fußball ein wenig anders: "Man achtet jetzt öfter auf gewisse Szenen", erzählt er, doch der Wille zur Anpassung hat Grenzen, "die harmonische Verbundenheit mit der offensiven Rolle" müsse erhalten bleiben. Flick wird ihm nicht widersprechen: Offensiv wird Hofmann mit seinen öffnenden Läufen nicht nur auf dem Flügel gebraucht. Beim Hinspiel in Budapest (1:1) war er gegen die notorisch unbequemen Ungarn der Schütze des einzigen Tores. Der nächste Streich ist ihm am Freitagabend jederzeit zuzutrauen, es muss auch kein Viererpack sein.

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