Süddeutsche Zeitung

Almuth Schult im DFB-Team:Die Torhüterin mit der großen Klappe

Von Anna Dreher, Grenoble

Almuth Schult hat sich unendlich müde gefühlt, als wäre all ihre Energie weggeflogen, einfach so, in einem unbemerkten Moment. Sie hatte Fieber bekommen, nicht so wild, dachte sie erst, aber es wurde nicht besser. Schult verlor Gewicht, ihre Bindehaut entzündete sich, die Leber, schließlich auch das Zahnfleisch. Statt im Trainingslager des VfL Wolfsburg in Portugal weiter Bälle zu fangen, lag die Torhüterin im Februar im Bett einer Hamburger Spezialklinik. Mit Masern, gegen die sie sich nicht geimpft hatte, weil sie glaubte, das Virus schon als Kind bekämpft zu haben. Und als sie nichts mehr machen konnte, als sie sogar zu schwach war zu reden, fand sie zurück zu ihrer Stärke. Zunächst nicht auf dem Fußballplatz. Sondern im Kopf. Und vielleicht macht sie das bei der WM in Frankreich besonders gefährlich.

Deutschland hat das Achtelfinale als Gruppenerster erreicht und trifft in Grenoble am Samstag auf Nigeria. In den anderen Gruppen hatten sich skurrile Konstellationen ergeben, erst Donnerstagnacht, als sich Chile mit einem verschossenen Elfmeter ums Weiterkommen brachte, stand Nigeria mit Starspielerin Asisat Oshoala (FC Barcelona) als deutscher Gegner fest - und nicht, wie befürchtet, Brasilien.

Neben den USA ist die Mannschaft von Bundestrainerin Martina Voss-Tecklenburg die einzige, die die Vorrunde ohne Gegentor beendet hat. Während das bei den US-Amerikanerinnen vor allem daran lag, dass sie mit ihrem schwer zu zähmenden Offensivdrang kaum eine Chance der Gegner zuließen, waren es im Fall von Deutschland auch die Paraden von Almuth Schult, ihre Präsenz und Ausstrahlung im Tor, die einschüchternd für die Gegner wirken - und antreibend für die Mitspielerinnen.

Erst die Masern-Erkrankung, dann eine Schulterverletzung

"Das war für mich die schwierigste und anspruchsvollste Zeit", sagte die 28-jährige Schult vor einigen Tagen in Montpellier über den vergangenen Winter, der nun schon wieder so weit weg zu sein scheint: "Ich bin froh, dass das alles vorbei ist. Es war kein einfaches Halbjahr, ich bin einfach nur froh, fit hier bei der WM zu sein."

Als Schult die Krankheit halbwegs überstanden hatte, besuchte sie der Trainer der deutschen Nationaltorhüterinnen im Krankenhaus. Michael Fuchs erlebte eine frustrierte Torhüterin, die damals deutlich gespürt hat, wie schnell man etwas im Leben verlieren kann, das man nicht verlieren will. Er erlebte aber auch eine Torhüterin, die im nächsten Moment über ihre Pläne sprach, sich Gedanken über ihre Rückkehr machte. Und die rechnete, wie viele Wochen ihr noch blieben, um bis zur WM wieder gesund und austrainiert zu sein. Denn Schult akzeptiert im Kopf keinen Stillstand, selbst wenn der Körper ihr das so signalisiert hat. Allein dadurch trägt sie eine gewisse Unbesiegbarkeit in sich.

Auf die Masern-Erkrankung folgte zum Saisonende der Bundesliga eine Schulterverletzung. Es war eine bescheidene erste Jahreshälfte 2019, aber auch diese Verletzung überwand Schult, weil diese WM eine besondere ist: Ihre erste als "Nummer eins", manchmal gerät das in Vergessenheit, weil Schult schon lange dabei ist. Aber die Fußballnationalmannschaft hatte eben nicht nur herausragende Torhüterinnen auf dem Platz, sie hatte auch herausragende Torhüterinnen, die lange warten mussten, um sich zeigen zu können. Schults Vorgängerin Nadine Angerer debütierte 1996 - bis sie nach Silke Rottenberg Stammtorhüterin wurde, vergingen mehr als zehn Jahre. Schults erstes großes Turnier war die WM 2011 im eigenen Land, zur Nummer eins wurde sie erst im September 2015, nach Angerers Rücktritt. Auch darin liegt ja eine Stärke: warten zu können, hartnäckig zu arbeiten - und dann im entscheidenden Moment auch wirklich da zu sein.

Rottenberg und Angerer haben dazu beigetragen, dass zu ihrer aktiven Zeit Deutschland zwei Mal Weltmeister und fünf Mal Europameister wurde und drei Mal Bronze bei Olympischen Spielen gewann. Beide waren nicht nur außergewöhnliche Torhüterinnen, sie waren auch starke Charaktere. Schult passt in diese Linie. Sie äußert sich öffentlich meinungsstark und kritisch, auch gegenüber dem eigenen Verband und zum Thema Chancengleichheit für Frauen im Fußball. "Ich sehe Almuth in diese Rolle reinwachsen", sagt Torwarttrainer Fuchs, "sie hat eine sehr starke Persönlichkeit und einen Willen, der sie gegen viele Widerstände dorthin gebracht hat, wo sie heute steht."

Schult steht für eine aufrichtige Haltung. Mit ihrer Art eckt sie auch an, sie bleibt aber, wie sie ist, mit allen Konsequenzen, auf und neben dem Platz. "Almuth hat eine unglaublich große Klappe, wo viel dahinter ist", sagt Kapitänin Alexandra Popp. Und wenn Fuchs mit ihr eine Übung macht, von der sie nicht ganz überzeugt ist, wird diskutiert. Sie vertraut ihm, immerhin kennt sie Fuchs seit ihrem 15. Lebensjahr, aber sie hinterfragt Dinge konsequent, mit großem Wissensdurst.

So ist Schult aufgewachsen, in Lomitz, einem Dorf in Niedersachsen mit wenigen Häusern und einer Hauptstraße - mit einer Schwester und zwei Brüdern. Wenn einer etwas nicht wusste, wurde daheim der große Brockhaus aus dem Regal geholt und nachgeschaut. Diskutiert wurde sowieso, auf unterschiedliche Art: "Meine älteren Brüder hatten auch mal Spaß dran, die kleine Schwester zu verprügeln, da musste man schon sehr viel einstecken", hat Schult in einem WM-Video des DFB erzählt. "Und ich bin halt auf dem Bauernhof groß geworden. Ich kann auch mit einer Motorsäge umgehen, ich kann auch Holz hacken, da bin ich schon robust und kräftig. Das hilft mir, glaube ich, auch im Tor."

Schult, 1,80 Meter groß, gehört mit ihrem hohen taktischen Verständnis, ihrer Strafraumbeherrschung und Reaktionsschnelligkeit für viele zu den besten Torhüterinnen der Welt. Für Angerer ist sie sogar die Beste. Mit Schult wurde Deutschland 2016 Olympiasieger, es war ihr erstes großes Turnier als Stammtorhüterin. Seit sie diese Rolle innehat, gibt sie dem Team jenen Rückhalt, den es braucht.

So viel Selbstvertrauen wie Frankreich und die USA

Aber Schult hat sich auch immer wieder jene Art von Fehlern geleistet, die eine Mannschaft verunsichern kann. Folgenschwere Patzer, bei denen sie wie ausgewechselt wirkt, im Verein und in der Nationalmannschaft. Ganz unumstritten war ihr Status daher in Kombination mit ihren gesundheitlichen Problemen nicht. Im April gegen Japan beispielsweise spielte sie den Ball zwei Mal nach Rückpässen zu Gegnerinnen, die daraufhin Tore schossen. Wenn man Schult genauer betrachtet, passen solche Aktionen aber irgendwo auch zu ihr. Weil sie eine Perfektionistin ist - und aus ihrem hohen Anspruch an sich selbst und das gesamte Spiel heraus nicht immer die einfache Lösung richtig findet, sondern eine besondere sucht.

Bei der WM aber hat sie bisher eine Fokussierung gezeigt, die vermuten lässt, dass ihr keine groben Schnitzer passieren werden. Schult gehört zu jenen deutschen Spielerinnen, die so viel Präsenz ausstrahlen wie sonst als Team bisher nur Frankreich und die USA. "Ich bin froh, dass sie eine großartige Hilfe für diese Mannschaft ist und auch abseits des Platzes unheimlich viel mitträgt, auch viel Input gibt, was das Team taktisch braucht", sagt Bundestrainerin Voss-Tecklenburg. "Da ist sie wirklich ein wichtiger Stabilisator. Sie wird bestimmt mal eine gute Trainerin." Schult gilt auch als beliebte Ansprechpartnerin für die Jüngeren im Team. Von einer wie ihr zu lernen, wird keiner schaden. Nicht auf und nicht neben dem Platz.

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SZ vom 22.06.2019/dsz
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