DFB-Elf vor dem Italien-Spiel:Wahl der richtigen List

Offensive und Defensive als getrennte Kategorien? Das war einmal. Seit der WM 2010 hat sich die deutsche Nationalmannschaft prächtig entwickelt - und ihr taktisches Repertoire extrem erweitert. Bundestrainer Löw kann zwischen unterschiedlichen Stilen entscheiden. Welcher wird es gegen Italien sein?

Christof Kneer

Die Stimmen, die am Dienstag aus dem Lager der deutschen Nationalmannschaft nach draußen drangen, klangen auf verstörende Weise uneinheitlich. Gegen Italien müsse man "kompakt in der Abwehr stehen und Nadelstiche nach vorne setzen", sagte Miroslav Klose, während Philipp Lahm auf "unsere hohe Qualität im Spiel nach vorne" hinwies.

Ein schneller Zuhörer könnte diesen Sätzen einen ernsthaften Konflikt entnehmen - ist es denn nicht so, dass hier ein Stürmer zu defensivem Spiel rät, während ein Abwehrspieler die Offensive empfiehlt? Ja, so ist es, einerseits, und andererseits ist es auch wieder ganz anders.

Die deutsche Nationalmannschaft ist über jenes Stadium hinaus, in dem man Offensive und Defensive als getrennte Kategorien begreift. Jedenfalls nimmt sie das vor dem EM-Halbfinale gegen Italien ausdrücklich für sich in Anspruch, und wer Klose oder Lahm ausführlicher zuhörte am Dienstag, fand schnell Belege für diese neue Art des Denkens. Klose, der vermeintliche Anwalt des Defensivspiels, hat ein paar Sätze später die offensiven Stilmittel dieser Elf betont, während Lahm im nächsten Atemzug für erhöhte defensive Sorgfalt plädierte.

Erst A und dann B zu fordern, ist kein Widerspruch mehr bei dieser Mannschaft, es ist Teil ihres Plans. Bundestrainer Joachim Löw sagt, er wolle eine Unterscheidung in Offensiv- und Defensivspiel "künftig eigentlich gar nicht mehr hören".

Es ist die neue Dimension dieser Nationalmannschaft, dass sie inzwischen beides kann. Zumindest an guten Tagen ist sie imstande, je nach Bedarf und Spielsituation zwischen den unterschiedlichen Welten hin- und herzuwechseln. Sie beherrscht noch jenes Spiel, das sie bei der WM 2010 in Südafrika vorführte, es war ein Spiel, das nach Offensive aussah, aber im Kern defensiv war.

"Fifty-fifty"

Die Mannschaft war sehr jung damals und auf hohem Niveau wenig erfahren, weshalb sie sich einen Spielstil zulegte, der zu ihr passte. Es war ein kreativer Notwehrfußball, den Löw bei seiner Elf in Auftrag gab, und es ging darum, scharf und konzentriert zu verteidigen und dann überfallartig nach vorne zu kommen. Es war ein Fußball, wie ihn begabte Außenseiter spielen - das Problem war nur, dass die deutsche Elf nach dieser erfolgreichen WM kein Außenseiter mehr war.

Löw Schweinsteiger EM Halbfinale Deutschland Italien

Mal listig, mal konservativ: Bundestrainer Joachim Löw (rechts).

(Foto: Getty Images)

Löw hat schnell begriffen, dass seine Elf nach ihrem weltweit bestaunten WM-Vortrag 2010 eine neues Repertoire braucht. Er wusste, dass sie sich weiter entwickeln, dass sie einen neuen Fußball erlernen muss, weil kein Gegner mehr so freundlich sein würde, die Deutschen zu unterschätzen. Die Gegner würden gegen Deutschland nun ihrerseits defensiv spielen, sie würden ihrerseits Räume verengen und Wege zustellen. "Am letzten Drittel arbeiten", so nannten Löw und sein Assistent Hansi Flick die neue Lektion, die sie ihrer Mannschaft verordneten.

"2011 war ein Zwischenjahr", sagt Hansi Flick. Es war das Ziel der Trainer, dem Team nun einen Fußball beizubringen, der das Gegenteil vom WM-Fußball war; es sollte ein Fußball sein, der im Kern offensiv ist - auch wenn er manchmal nach Vorsicht und Kontrolle aussieht. Löw und Flick haben es geschafft, das Jahr 2011 zu einem der erfolgreichsten Jahre des deutschen Fußballs zu machen. Die Qualifikation zur EM 2012 gelang schweißfrei und ohne Punktverlust, in Testspielen wurden hochkarätige Übungspartner wie Uruguay, Brasilien und die Niederlande spielend besiegt.

Damit verfügt Löws Mannschaft einstweilen über einen prächtigen Vorrat an Spielstilen. Sie kann jetzt wunderbar wählerisch sein. Gegen die schweren Vorrundengegner Portugal und Niederlande überraschte Löw mit einem sehr kompakten System, das Freunde des oberflächlichen Abenteuerfußballs enttäuschte, Anhänger des hintergründigen Vernunftfußballs hingegen umso mehr entzückte.

Im Viertelfinale, gegen die sehr antiken Griechen, hat die Mannschaft dann ihren neu erlernten Fußball zeigen dürfen, sie musste ebenso konzentriert wie inspiriert das Drittel ganz vorne bespielen, in dem sich die Griechen vollzählig verschanzt hatten. "Inzwischen haben wir die Qualität und auch die Spieler, um total defensive Gegner in aller Ruhe zu besiegen", sagt Philipp Lahm, "das ist der große Unterschied zu 2010."

Die Fachwelt erwartet gespannt, welchen Stil der Bundestrainer fürs Halbfinale wählen wird. Es wird wohl Richtung Vernunftfußball gehen, Löw hat hohen Respekt vor der Offensive der Italiener. Die Chancen, sagt Lahm, stünden "fifty-fifty".

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