DFB-Elf in der Nations League:Löws Bauhelm-Mission

  • Bundestrainer Joachim Löw steht gegen Frankreich vor einer Art Endspiel, doch welche Spieler kann er derzeit wirklich gebrauchen?
  • Von einigen Etablierten wie Neuer, Hummels oder Müller heißt es, sie hätten ihren Zenit überschritten - nur: es drängen sich auch nicht wirklich haufenweise junge Leute auf.

Von Christof Kneer, Paris

Es gibt so viele Preise zu gewinnen im Weltfußball, dass man bald den Überblick verliert. Es gibt den Europa- und den Weltfußballer des Jahres, außerdem wird jährlich der "Ballon d'Or" verliehen, und nebenbei machen sich diverse Verbände/Verlage/Vereinigungen einen Spaß daraus, lustige Shortlists herauszugeben. Die besten 40 Talente unter 21, die besten 21 Talente unter 40, der blondeste linksfüßige Torwart aus Mitteleuropa: Man muss wirklich nicht jede Rangliste auswendig kennen, aber für alle, die ein bisschen mitreden wollen, gibt es inzwischen immerhin eine verlässliche Faustregel: Ein Deutscher ist nirgendwo mehr dabei.

Dieser unverschämte Trend hat sich über Jahre angedeutet und zuletzt deutlich verschärft, aber im vergangenen Jahr haben es Toni Kroos und Manuel Neuer wenigstens noch in die vorletzte Casting-Runde des Weltfußballers geschafft, und Kroos tauchte außerdem zusammen mit Mats Hummels auf einer - allerdings recht langen, 30 Spielernamen umfassenden - Shortlist für den Ballon d'Or auf.

In diesem Jahr ist keiner der drei mehr vertreten, was auch daran liegen könnte, dass bisher noch kein Verband oder Verlag Trophäen für herumstehende Mittelfeldstrategen, für täglich langsamer werdende Verteidiger oder für die am besten an Flanken vorbeifliegenden Torhüter vergibt. Und man sollte sicherheitshalber davon ausgehen, dass man in diesem Jahr auch sehr weit blättern oder sehr tief runter scrollen muss, um Joachim Löw in irgendwelchen Trainer-Rankings zu finden.

Beeindruckende Selbstanzeige Löws

Joachim Löw muss eine Menge aushalten seit dem Sommer 2018, was ebenso zum Geschäft gehört wie die Hymnen, die ihm vier Sommer zuvor gesungen wurden. Löw hat inzwischen auch eine eindrucksvolle Selbstanzeige gebastelt, er hat sich selbst der Überheblichkeit und der Verschleppung des Spielstils bezichtigt. Beim Volk hat er damit allerdings gefährliche Erwartungen geweckt. Das Volk denkt jetzt: Wenn der Löw das doch eingesehen hat mit dieser verlebten Null-Bock-Truppe, warum tauscht er sie dann nicht aus?

Tatsächlich hätten Ankläger vor dem hohen Fußballgericht gerade eine Menge vorzubringen gegen diesen Bundestrainer, aber auch Löws Verteidiger würden noch genügend Material finden. Denn es stellt sich ja vor allem diese eine Frage: Wie und mit wem genau soll Löw denn reformieren? Soll er wirklich Boateng, Hummels und Kroos weglassen und dafür sofort Süle, Tah und Goretzka spielen lassen? Und wen sollte Löw rechts vorne spielen lassen, falls er zu dem Schluss käme, dass es jetzt langsam mal reicht mit diesem Müller?

Jogi Löw hat eine Menge unterschätzt vor und bei der WM, aber er ist halt leider auch der Bundestrainer und kein Guru wie Olaf Thon oder Lothar Matthäus oder Christoph Daum. Die können laut und lässig fordern, dass der Neuer aus dem Tor gehört und die Altherrenabwehr mindestens ins Antiquariat, aber sie müssen ja auch keine Alternativmannschaft verantworten. Ein strenger Rundgang durch den deutschen Fußball ergibt nämlich in der Tat, dass Joachim Löw im Moment kaum etwas anderes übrig bleibt, als sich die Frisur zu ruinieren. Er muss sich einen sehr massiven Bauhelm aufsetzen.

Es ist kein Zufall, dass der deutsche Fußball im Moment für keinerlei Preise infrage kommt. Wer sich daranmacht, die Schwachstellen in Löws Kader zu untersuchen, der muss sich erst mal entscheiden, an welcher Ecke er mit der Baubestellen-Begehung beginnt. Ist das Problem vor allem der fehlende Mittelstürmer, braucht es nur jemanden, der Timo Werner unterstützt, und dann wird alles gut?

Ist das Problem die mangelnde Schärfe auf dem Flügel, weil es außer Leroy Sané kaum mehr Abenteurer gibt, die mit riskanten Dribblings auch mal ins Ungewisse aufbrechen? Fehlt es an Stabilität vor der Abwehr, weil Joshua Kimmich noch zu hyperaktiv ist und Toni Kroos das Gegenteil davon? Oder bringen die Not-Außenverteidiger zu viel Unwucht ins Gebilde, weil die hohen Herren im Zentrum sie manchmal nur naserümpfend oder am liebsten überhaupt nicht anspielen?

Wenn man ehrlich ist: Das sind alles sehr berechtigte Fragen. Nur die Gewichtung der Fragezeichen ist am Ende vielleicht noch Geschmackssache.

Schulische Fehler des Systems

Nach der verunglückten WM hat der deutsche Fußball gründlich über Lehre und Ausbildung diskutiert, zu Recht, wie sich inzwischen am Kader der obersten Mannschaft des Landes zeigt. Löw muss nun, da seine Helden von Rio in die Jahre kommen, auch die schulischen Versäumnisse des Systems ausbaden. Beim Wiederaufbau des deutschen Fußballs zu Beginn des Jahrtausends haben die Verantwortlichen sehr darauf geachtet, dass sie endlich technische und taktische Standards lehren, und dabei haben sie die Ur-Reflexe der Sportart ein bisschen vergessen.

Wunderbar zu sehen ist dies auf jenen klassischen Positionen, aus denen Trainer normalerweise ihrer Achsen bauen: Vorne bietet der deutsche Fußball zurzeit vor allem Halbstürmer an, aber zumindest auf Top-Niveau findet sich kein echter Mittelstürmer mehr - was dazu führt, dass manche immer noch auf den Durchbruch des Herthaners Davie Selke hoffen. Auch im zentralen Mittelfeld hat der deutsche Fußball lauter Alleskönner ausgebildet, Spieler, die defensiv und offensiv fast gleichermaßen gut, aber halt auf nichts spezialisiert sind.

So ist aus Deutschland ein Achterland geworden: Es gibt (zu) viele Spieler, die zur Not auch mal auf der Sechserposition spielen können, aber eigentlich eine Position weiter nach vorne gehören. Ilkay Gündogan, Emre Can, Leon Goretzka oder die U21-Begabungen Arne Maier und Maximilian Eggestein - ja, verheißungsvolle Allrounder sind das. Aber eines liefert der deutsche Fußball gerade nicht mehr: einen wirklich defensiven Sechser wie Christoph Kramer oder die jungen Benders, einen präsenten Zweikämpfer, der die eigenen Abwehrspieler beschützt. Auch bei Kimmich, der jetzt dort spielt, handelt es sich bauartbedingt eher um etwas Achterartiges.

Auf welchen Positionen ist die deutsche Nationalmannschaft wirklich noch Weltmeister-Weltklasse? In Summe vielleicht auf dem linken Flügel, weil dort kurioserweise gleich mehrere gute bis sehr gute Spieler zur Verfügung stehen (Reus, Sané, Draxler, Brandt, Gnabry, neuerdings auch Timo Werner); dafür ist der schräge Müller auf rechts fast konkurrenzlos. Rechts hinten spielt Ginter, links hinten Hector, Charakterspieler und treue Recken, aber gewiss nicht Weltklasse.

Und sonst? Kimmich und Werner sind es noch nicht, Müller, Boateng und Hummels womöglich nicht mehr. Kroos? Neuer? Ja, kann sein, die könnten noch mal auf ihre Höhen kommen. Aber am Dienstag spielen die Deutschen bei einem Gegner, dessen Weltklassespieler Lloris, Varane, Kanté, Pogba, Mbappé und Griezmann heißen. Und auf der Bank hat dieser Gegner einen Trainer sitzen, der allerbeste Chancen hat, demnächst ein paar Preise zu gewinnen.

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