WM-Aus der Nationalelf:Rumpeln und Rumoren bei der Heimkunft

  • Der Frust begleitet die deutsche Nationalelf auch bei ihrer Rückkehr von der WM in Russland.
  • Viele Spieler wirken tief enttäuscht: Es stellt sich die Frage, warum keiner in der Lage war, Tore zu schießen.
  • Bundestrainer Löw hätte viel zu tun mit dieser Mannschaft - so er denn weitermacht.

Von Philipp Selldorf

Die Grenzen des Volumens seien "angekratzt", teilte der Flugkapitän mit, bis zum Start werde es daher noch ein wenig dauern. Im Frachtraum rumpelte und rumorte es. Unter Hochdruck verstauten die russischen Flughafen-Arbeiter, schwitzend in der Hitze des Sommertags, das Gepäck des Deutschen Fußball-Bundes, aber es waren so viele Kisten und Container, dass aus der vom Kapitän versprochenen kurzen eine ungeplant deutliche Verspätung wurde. Dabei konnte es doch gar nicht schnell genug gehen beim Rückzug des Nationalteams von der Weltmeisterschaft, fluchtartige Anwandlungen hatte der Aufbruch aus Russland.

Nach dem 0:2 gegen Südkorea in Kasan waren die Verlierer nachts um eins im Teamhotel in Watutinki eingetroffen, schon mittags um 12 sollte das Flugzeug nach Frankfurt starten, und pünktlich um drei Uhr wollte der DFB-Präsident Reinhard Grindel am Tor 13 des Airports zu den geladenen Medienvertretern und überhaupt zur ganzen Nation sprechen. So hatte man das minutiös geplant beim DFB, doch daraus wurde dann erst mal nichts, weil das Rumpeln und Rumoren im Frachtraum des Mannschaftsfliegers nicht aufhörte.

Die Passagiere, die eben noch mit angespannten Krisenmienen zugestiegen waren, nahmen es gelassen und fingen an sich zu entspannen. Niklas Süle tagträumte unter seinen Kopfhörern, Mats Hummels studierte die Tagespresse, und in Reihe 9 wurde sogar ein Buch gelesen - aber der Gast in Reihe 9 war ja auch Jonas Hector, der wegen seiner intellektuellen Interessen den Spitznamen "Schlaubi" trägt. Der Mann in Reihe zwei hingegen studierte auf dem Handy den Posteingang. Welche Botschaften mag Joachim Löw wohl empfangen haben in der Nacht, die seiner größten Niederlage folgte?

Für die WM war die Nationalelf nicht gewappnet

Darüber lässt sich vorerst ebenso lediglich spekulieren wie über den Inhalt der vielen Kisten und Container. Wahrscheinlich, das war die gängige Vermutung der Passagiere aus dem Presse-Corps, wurden im Übergepäck die Computer, Analysetools und technischen Hilfsmittel transportiert, mit denen sich die Leute von der Nationalmannschaft hochmodern für die WM gewappnet hatten. Ob auch die phänomenal falschen Hinweise zur Taktik der Mexikaner beim ersten Turnierspiel wieder eingepackt wurden? Gewissermaßen handelt es sich um historische Dokumente.

An Datenmaterial hat es zweifellos nicht gemangelt, wenn der Bundestrainer und seine Mitarbeiter während der vorigen Wochen in ihren Konferenzräumen zusammenkamen. Der Input an theoretischem Wissen war so gewaltig wie bei keinem Turnier zuvor, das haben alle Beteiligten gesagt, das Ergebnis ist ebenfalls ein Rekord - wenngleich ein unerwünschter. Als amtierender Weltmeister und Titel-Favorit Gruppenletzter in der Vorrunde zu werden - das ist, wie Rudi Völler einst sagte, der Tiefpunkt der Tiefpunkte.

Jogi Löw, 58, hält eigentlich nicht viel von der Datenflut im Fußball. "Ich schaue auf die Daten, schlafe eine Nacht drüber - und entscheide dann aus dem Bauch", hat er neulich mal gesagt. Aber ein richtiger Bauchmensch ist er in Wahrheit auch nicht. Daher hat niemand erwartet, dass er am Tag nach dem Unheil Definitives verkünden würde in der Frage der Fragen des deutschen Fußballs. Ob Löw Bundestrainer bleiben wird, das wollen jetzt alle wissen. Zunächst kann nur Löw selbst darauf eine Antwort geben, bisher hat er das noch nicht getan. Darüber müsse er sich "in Ruhe" klar werden, sagte er nach dem Spiel gegen Südkorea, nach dem er sich "schockiert" und "maßlos enttäuscht" zeigte.

Beim Spiel gegen Mexiko mochten manche Zuschauer den Eindruck haben, dass das Haltbarkeitsdatum der alten Weltmeister-Truppe abgelaufen sein könnte. Beim Spiel gegen Südkorea aber waren die Assoziationen noch bedenklicher: Da fühlte man sich in ein anderes Zeitalter versetzt. EM 2004, Deutschland gegen Lettland, 0:0. Oder auch: Die Unfähigkeit, ein Tor zu schießen. Timo Werner und Marco Reus, mit denen Löw jetzt in das Turnier aufbrechen wollte, gelang gegen die Koreaner nicht viel mehr als damals Fredi Bobic und Thomas Brdaric, Mario Gomez war nicht gefährlicher als seinerzeit Kevin Kuranyi.

Verzeiht man ihnen die Blamage?

Löw gestand: "Wir hatten es nicht verdient, ins Achtelfinale zu kommen." An diesem "sehr, sehr traurigen Abend" (Sami Khedira) fiel es schwer zu glauben, dass die Deutschen ihrem Weltmeistertrainer so eine vollendete Blamage verzeihen würden. Doch Jogi Löw darf selbst entscheiden, ob er sich für stark genug hält, auch künftig das Nationalteam zu coachen - notfalls gegen ein Fußball-Volk, das ihm gerade schlecht gesonnen ist.

Reinhard Grindel hat die Position des DFB klargestellt, als er vor und nach dem Spiel gegen Südkorea auf das bestehende Vertragsverhältnis verwies und den Willen, den erst kürzlich bis 2022 verlängerten Vertrag einzuhalten. Der Verband will mit Löw weiterarbeiten, das ist Grindels Botschaft, doch das ist nicht als Garantieerklärung zu verstehen, sondern als Angebot, und darauf soll Löw jetzt schnell und entschlossen reagieren.

Grindel hat Löw beim Gespräch in Watutinki nach der Heimkehr aus Kasan zwar keine Frist gesetzt, aber Erwartungen formuliert. Bis Anfang der nächsten Woche möchte er Klarheit haben. Löw muss sich schneller entscheiden, als ihm das womöglich recht ist. Nach der EM 2012, als man ihm das Halbfinal-Aus gegen Italien anlastete, tauchte er so lang ab, dass ihn manche beim DFB für verschollen erklären wollten. Einzig den Präsidenten Wolfgang Niersbach ließ er zum Zwiegespräch vor. Damals kehrte Löw kämpferisch zurück, jetzt müsste er im Alter von 58 Jahren einen sehr viel anspruchsvolleren Neuanfang herstellen.

"Ich habe die Verantwortung und stehe auch dazu", sagte Löw in Kasan. Dazu sollte man allerdings wissen: Er hängt an dem Job, den er seit 2006 hauptamtlich versieht. Er weiß, dass es für ihn keinen besseren geben kann. Dass er neulich den neuen Vertrag unterzeichnet hat, das war ja nicht nur eine gnädige Erwiderung der Avancen des DFB-Präsidenten, der sich an dieser Front Ruhe verschaffen wollte. Es war auch das Bekenntnis, dass er in dieser Trainer-Tätigkeit alt und grau werden möchte.

Ob er sich den Posten weiterhin zutraut, das hängt nun auch von den öffentlichen und internen Reaktionen auf das Scheitern in Russland ab. "Man hat nicht gemerkt, dass wir hier eine Weltmeisterschaft spielen", hat Manuel Neuer in der Kasan-Arena gesagt - ein radikales Urteil, das logischerweise auch dem Trainer gilt. Die Gemeinheiten und Polemiken, die jetzt kämen, die könne man "nicht zurückweisen, weil wir mit heruntergelassener Hose dastehen", räumte Thomas Müller ein.

2004 ist Löw, unter anderem wegen des Lettland-Desasters, zum DFB gekommen. Er war Teil der Revolution, die Jürgen Klinsmann damals ausgerufen hatte, doch er ist längst nicht der einzige Übriggebliebene. Der Teampsychologe Hans-Dieter Hermann, der schweizerische Chefscout Urs Siegenthaler, die amerikanischen Fitnesstrainer Shad Forsythe und Mark Verstegen, der Torwarttrainer Andreas Köpke und der Manager Oliver Bierhoff - die Revolutionäre sind zum Establishment geworden beim DFB. Da wird sich etwas ändern, auch wenn Löw sich entschließen sollte, weiterzumachen. Weitermachen wie bisher, das geht eher nicht mehr.

Im Flugzeug nach Frankfurt herrschte dann viel Verkehr, nachdem es endlich losgeflogen war. Der halbe DFB-Tross kam bei den Journalisten in den hinteren Sitzreihen vorbei, Trainer, Spieler, Betreuer, Funktionäre. Aber das lag bloß daran, dass die Toiletten im vorderen Teil defekt waren. Was für eine WM.

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